Marat/Sade (1967)
Der Schriftsteller Peter Weiss gelangte vor allem mit seinem ersten deutschsprachigen Theaterstück "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" (1964/1965) zu großer Berühmtheit: Mit seinem unter dem Kurztitel "Marat/Sade" geläufigen, assoziationsreichen und experimentell konzipierten Stück, welches er mehrfach revidierte, hatte Weiss erheblichen Anteil an einer Prägung des modernen Regietheaters; die Anzahl der Aufführungen weltweit stieg in den nächsten Jahren ins Unermessliche. Zugleich aber erschuf Weiss sein Erfolgsstück nicht aus dem Nichts, sondern griff unter anderem auf Brecht, Piscator und vor allem auf Artauds théâtre de cruauté zurück. Das Stück über de Sade, der in der Irrenanstalt ein Marat-Stück zur Aufführung bringt, dürfte auch deshalb in den nächsten Jahren seit seinem Erscheinen einen solch großen Erfolg gehabt haben, weil de Sade unter den Linktsintellektuellen jener Jahre mehr und mehr zu einem aktuellen Thema geriet: Klossowski, Bataille, Camus und de Beauvoir widmeten sich seit Ende der 40er Jahre dem Namensgeber des Sadismus; 1967 erschienen dann die Tel Quel-Ausgabe La pensée de Sade und auch Susan Sontag nahm mit "The Pornographic Imagination" (1967) indirekt auf de Sade Bezug. "Marat/Sade" ist somit gewissermaßen auch ein Modeprodukt oder vorsichtiger ausgedrückt: ein zeitgenössisches Phänomen.
Mit der umfangreichen Abhandlung "Avantgardefilm" (1956) erwies sich Weiss, die große Gestalt des modernen Theaters, aber auch als ein ausgezeichneter Kenner der Avantgarde- & Experimentalfilmgeschichte, in die er sich zudem auch als Filmemacher mit eigenen schwedischen Arbeiten während der 50er Jahre einschrieb. Und 1967 kam es dann gleich zu zwei Verfilmungen von "Marat/Sade": Im Norddeutschen Rundfunk war eine unter anderem mit Balduin Baas besetzte Version zu sehen, die aber im Gegensatz zum Kinofilm Peter Brooks schnell in der Versenkung verschwand. Brooks "Marat/Sade" erfreut sich hingegen noch heute großer Beliebtheit unter Fans des Stücks, ist allerdings aufgrund rarer Veröffentlichungen nicht mehr unbedingt sehr populär. Wie Weiss stand auch Peter Brook zwischen dem Theater und dem Film: Als Theaterregisseur & -theoretiker gefeiert, versuchte er sich immer wieder auch an Literaturverfilmungen - "Moderato cantabile" (1960) nach Marguerite Duras und "Lord of the Flies" (1963) nach William Goldig zählen dabei mit "Marat/Sade" zu seinen populärsten Arbeiten, wobei sich sein Schaffen allerdings von "The Beggar's Opera" (1953) bis zur späten Shakespeare-Verfilmung "The Tragedy of Hamlet" (2002) über einen wesentlich größeren Zeitraum erstreckt. Vorlagenautor und Filmregisseur standen also beide aufgeschlossen genug zwischen beiden Kunstformen, um eine interessante Verfilmung zu versprechen. Und in der Tat ist "Marat/Sade" eine spannende Schnittstelle zwischen Film und Theater.
Die am 22. Februar 1967 uraufgeführte Theaterverfilmung zählt zu den eigenwilligeren Bizarrerien des britischen Kinos der 60er Jahre: Nach einem spröden, minimalistisch gestalteten Vorspann startet der Film zu infernalischer, dröhnender Musikspur, ehe dann die Darsteller(innen) vor der höchst beweglichen Kamera ihre gereimten Verse auftragen und dabei immer wieder direkt mit der vierten Wand brechen und direkt das Publikum ansprechen. Stilisierte Bildkompositionen, irrsinnig tobende Figuren, grimassierende Gesichter, Gesangseinlagen und eine (visuell ausgesprochen zurückhaltende) Thematisierung von Sexualität und Gewalt rücken den Film in die Nähe der Arbeiten Ken Russells, der zu dieser Zeit allmählich seine exzentrischen Regieeinfälle von den Bildschirmen auf die Kinoleinwände verlagerte. Dem Wirken der Schauspieler(innen) verdankt der Film einen Großteil seiner faszinierenden Absonderlichkeit: Patrick Magee ist der ideale de Sade-Darsteller und die noch am Beginn ihrer Karrieren stehenden Kolleg(inn)en Glenda Jackson, Freddie Jones, Ian Richardson und John Steiner fügen sich optimal ein.
Der schon dem zugrundeliegenden Stück zugeschriebene Umstand, dass Konzept und Form interessanter wären als die durchaus anspruchsvolle und interessante, aber nicht immer ganz klare inhaltliche Ausrichtung des Stoffes, kann auch bei Brooks Verfilmung beobachtet werden. (Interessanter ist da schon Jan Svankmajers Jahre später erschienene Mischung aus de Sade/Poe/Weiss-Elementen gewobene Phantasmagorie "Sílení" (2005), die freilich keine Verfilmung, aber eine interessante Fußnote darstellt, welche Weiss' Stück viel verdankt.)
Eine neuerliche, attraktivere DVD-Veröffentlichung wäre wünschenswert; aber bislang muss man sich mit der alten DVD von MGM begnügen: Fassungseintrag von Ormic
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