Bram Stoker's Dracula (1992)
Wenn sich ein belesener und filmgeschichtlich reflektierter Regisseur wie Francis Ford Coppola eines Genrefilmes annahm, dann konnte das Publikum sicher sein, gut unterhalten zu werden, während die Kritiker sich auf erlesene cinematische Techniken und Verweise freuen durften. Genau so verhielt es sich mit „Bram Stoker’s Dracula“, der am 10. November 1992 in den USA Premiere feierte, im folgenden Jahr mit drei Oscars belohnt wurde und zu Coppolas großen Erfolgen zählt (und übrigens auch sein Studio Zoetrope vor der Pleite rettete). Eng an der Vorlage von Bram Stoker entlang reiht sich Coppola in die lange Vampirfilmtradition ein, holt mit „Dracula“ das Sujet jedoch aus der Nische des Lächerlichen, Obskuren und Abgeschmackten heraus, in die es zwischenzeitlich gerutscht war, indem er die Geschichte und ihre Charaktere ernstnimmt und ihnen die charakterlicher Tiefe zugesteht, die sie in der literarischen Vorlage durchaus besitzen.
Eingebettet wird die Handlung um den transsilvanischen Grafen (Gary Oldman), der sich um die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende nach England begibt, um seine große Liebe (Winona Ryder) zu finden, in einen barock überbordenden Fin-de-siècle-Fiebertraum, in dem sich der Plot gelegentlich zu verlieren droht. Coppola evoziert alles, was das viktorianische England (mit Gothic-Touch) zu bieten hat: üppige Kostüme, Absynth bei Kerzenlicht, ein düsteres Irrenhaus, nebelverhangene Friedhöfe, unterdrückte Leidenschaft und bürgerliche Bigotterie… Der sexuelle Subtext, der bei Stoker nur angedeutet ist und den Hollywood im Film bis dato einem US-Mainstreampublikum nur verschämt andeuten wollte, wird von Coppola nun unmißverständlich ausbuchstabiert und explizitgemacht – Vampirismus ist vor allem Sex, und zwar in seiner animalischsten und damit blutigsten Ausprägung. Doch damit nicht genug, Coppola thematisiert als selbstreflexive Referenz auch die Geburt des Films, die zum Zeitpunkt der Handlung vor sich ging: In einer Szene wird auf einem Jahrmarkt einer der ersten Kinematographen angepriesen und das Publikum mit (heutzutage primitiv erscheinenden) optischen Tricks ergötzt; die ersten Eindrücke Draculas in den Londoner Straßen wurden mit einer alten Pathé-Kamera auf körnigem Material und mit erhöhter Bildfrequenz gedreht, was die Seherfahrung von alten Stummfilmen heraufbeschwört. Überhaupt verzichtet Coppola auf jede Form der damals gerade aufgekommenen digitalen Bildmanipulation und setzt bewußt auf photochemische und andere „traditionelle“ Bildeffekte, die in der Kamera direkt erzeugt werden, sowie auf Matte Paintings und Miniaturbauten anstelle von Außenaufnahmen – der Film entstand komplett im Studio. Diese visuellen Techniken verleihen dem Film eine ganz eigene, sinnliche und aus der Zeit gefallene Qualität.
„Bram Stoker’s Dracula“ ist wie ein guter Rotwein gealtert und lohnt das Wiedersehen, es gilt immer noch Details zu entdecken, die Ausstattung zu bewundern oder in der elegisch-spätromantischen Filmmusik von Wojciech Kilar zu schwelgen. Dies kann man anhand vielfach verfügbarer DVD-und Blu-ray-Ausgaben tun, die fast immer auch Coppolas kenntnis- und anekdotenreichen Regiekommentar enthalten. Am interessantesten ist dabei die erst 2015 erschienene Blu-ray (Fassungseintrag von XenoHead04), für die das Bild neu in 4K gemastert wurde und in frischer Brillanz erstrahlt. Die Kritik von Funeralthirst verweist etwas detaillierter auf die Vampirfilmgeschichte, die Coppola in „Dracula“ für den Genrekenner immer wieder augenzwinkernd zitiert.
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