I Call First (1967)
Mit "Silence" (2016), der Neuverfilmung eines schon von Shinoda als "Chinmoku (1971) verfilmten Romans aus der Feder von Shûsaku Endô, hat Scorsese – der nun am 17. November bereits sein 75. Lebensjahr erreicht hat – erst im letzten Jahr gezeigt, dass er noch immer zu großen Würfen fähig ist. Derzeit dreht er mit "The Irishman" nach Jahren wieder einen Gangsterfilm mit Robert de Niro und Joe Pesci – und Al Pacino. Sein erster Langspielfilm – nicht aber die bis in die 50er Jahre zurückreichenden filmischen Gehübungen - feiert derweil gerade sein 50jähriges Jubiläum: "I Call First" bzw. "Who's That Knocking at My Door?", der noch 1965 als Abschlussarbeit begonnen worden war, aber erst in den Jahren 1967/68 wirklich fertiggestellt werden konnte: Zunächst montierte Scorsese noch 1965 einen fast einstündigen Filmen namens "Bring on the Dancing Girls" aus dem Material, dessen Vorführung vor Publikum Scorseses Erinnerungen zufolge "verheerend" gewesen sein soll. 1966 – Scorseses Beziehung ist zerrüttet, seine finanzielle Lage ist unzufriedenstellend, die Zukunftsaussichten sind beängstigend – kann er mit Hilfe eines Freundes bald 40.000$ auftreiben und neue Szenen werden teils im 16mm-Fomat nachgedreht, alte Szenen werden zuhauf über Bord geworfen: und dabei übt die Nouvelle Vague einen großen Einfluss auf Scorsese und seine Crew aus. Das Ergebnis läuft unter dem Titel "I Call First" am 15. November 1967 auf dem Chicago International Film Festival – und wird von Roger Ebert und auch von John Cassavetes bewundert. Aber die Odyssee ist noch nicht vorbei: Weil sich der Vertrieb als schwierig gestaltet, dreht Scorsese mit seinem (inzwischen ja immerhin um drei Jahre gealterten) Hauptdarsteller Harvey Keitel in Amsterdam eine längere Nacktszene für einen Softporno-Vetrieb nach. (Dort knüpft Scorsese auch Kontakte mit Pim de la Parra, für dessen Voyeurismus-Thriller "Bezeten - Het gat in de muur" (1969) er die englischsprachigen Dialoge verfasst.) Heraus kommt der allergrößtenteils kaum von "I Call First" abweichende "Who's That Knocking at My Door?", der im September 1968 in New York uraufgeführt wird – und 1970 nochmals in "J.R." umbenannt wird. Unter diesem Titel wird ihn dann Roger Corman sehen, der Scorsese daraufhin mit der Regie von "Boxcar Bertha" (1972) betraut. (Ein eher untypischer Scorsese-Film, den weder Scorsese, noch sein guter Ratgeber Cassavetes sonderlich mochten.)
"I Call First" bzw. "Who's That Knocking at My Door?" ist eine Produktion, die bei allen finanziellen Schwierigkeiten, Verzögerungen, Unterbrechungen und Überarbeitungen große Qualitäten aufweist und die ganz großen Scorsese-Themen in sich vereint: Den Katholizismus, die Cinephilie, die Männerbündnisse. Es ist ein authentischer Milieu-Film, der ästhetisch zwischen New American Cinema und Nouvelle Vague oszilliert und Harvey Keitel in seiner ersten bedeutungsvollen Rolle bietet. Als cinephiler J.R. irrt Keitel durch den Film, trifft ein Mädchen, kommt mit ihrer früheren Vergewaltigung/Entjungferung nicht zurecht, serviert zunächst sie ab und wird letztlich von ihr abserviert. Zwischendurch gibt es an "Mean Streets" (1973) gemahnende Freizeitgestaltungen J.R.s zu bewundern, was wenig verwundert, wenn man bedenkt, dass "Mean Streets" und "I Call First" ursprünglich Teile einer Trilogie über die zentrale Figur J.R. bilden sollten. Wenn man sich auf den rauhen, aber nichtsdestotrotz formvollendeten Stil einlassen kann, bekommt man diesem Scorsese-Frühwerk auch zugleich eines der persönlichsten und besten Scorsese-Werke geboten, dessen schwierige Produktionsgeschichte sich keinesfalls negativ niedergeschlagen hat.
Die alte DVD von Warner ist noch immer recht günstig zu erwerben: Fassungseintrag von jtip.
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