Sátántangó (1994)
Langsame Filme sind nicht nach jedermanns Geschmack. Fühlen sich die einen durch Handlungsleerräume unterfordert oder gar provoziert, genießen die anderen die Möglichkeit, das Auge wandern und Dialoge nachwirken zu lassen. Die Filme des Ungarn Béla Tarr bauen ganz auf die letztgenannten Fähigkeiten und die Bereitschaft, Zeit im Film noch einmal ganz anders zu erfahren. Bis an die Grenzen des Möglichen und Zumutbaren ging er mit seinem inzwischen legendär gewordenen, da über sieben Stunden langen „Sátántangó“, der am 8. Februar 1994 in Ungarn uraufgeführt und wenige Tage später auf der Berlinale mit dem Caligari-Preis bedacht wurde.
„Sátántangó“ kann außer mit seiner schieren Länge jedoch noch mit weiteren Superlativen aufwarten, arbeitet hier doch der bedeutendste zeitgenössische ungarische Filmemacher mit László Krasznahorkai zusammen, der zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Ungarns gehört. Gemeinsam zeichnen sie in „Sátántangó“ das überaus deprimierende Bild einer kleinen landwirtschaftlichen Kommune, deren unbedarfte Mitglieder sich von Scharlatanen eine bessere Zukunft versprechen und übers Ohr hauen lassen und dabei vom – hier ganz Film gewordenen – Regen in die Traufe geraten. Da der Zusammenbruch des Ostblocks und die Desillusionierung seiner Bürger angesichts der hereinbrechenden kapitalistischen Wirklichkeit noch im vollen Gange waren, läßt sich die Handlung ohne weiteres als Gegenwartsanalyse begreifen (obwohl Krasznahorkais gleichnamige Vorlage bereits 1985 erschienen war). Was nun die sieben Stunden Laufzeit von „Sátántangó“ ausmacht, ist die Tatsache, daß Tarr die öde Trostlosigkeit seines Settings nicht nur behauptet, sondern den Zuschauer unerbittlich miterleben läßt: minutenlang wird die Kamera gar nicht oder sehr langsam bewegt, wiederum endlose Kamerafahrten folgen den Protagonisten beim Stapfen durch Regen und Schlamm. Lange wortlose Passagen, die von Wind- und Umgebungsgeräuschen dominiert sind, wechseln sich mit schleppenden Monologen oder phrasendreschenden Ansprachen der Betrüger ab, mit denen sie ihre Opfer einwickeln. Tarr verzichtet darauf, die Bilder symbolisch aufzuladen oder mit seinem Stil komplexe „Filmkunst“ zu produzieren wie andere Meister der langen Einstellung, etwa Antonioni, Tarkowski oder sein Landsmann Miklós Jancsó. Tarr bleibt bei aller Zerdehnung und Repetition immer ganz nah am narrativen Gerüst seiner Geschichte, die nur gelegentlich ihre chronologische Abfolge durchbricht, indem sie noch einmal neu ansetzt und die gleiche Situation nochmals aus der Perspektive eines anderen Protagonisten zeigt. Angesichts der überwältigenden Tristesse dieses sprichwörtlichen Feelbad-Movies blitzt jedoch gelegentlich auch ein verzweifelter Humor auf, der nicht verhehlt, daß Tarrs Sympathien ganz bei den einander betrügenden, promiskuitiven und versoffenen Dorfbewohnern liegen.
Béla Tarrs Filme nach „Sátántangó“ sind auf die eine oder andere Weise Variationen über ein Thema, und folgerichtig erklärte Tarr nach „Das Turiner Pferd“ (2011), nie wieder einen Film zu drehen. Leider ist bislang kein einziger von Tarrs Filmen in Deutschland für den Heimkinomarkt erschienen, wer diese sehen will, ist auf die Programmkinos oder aber auf den Import aus Großbritannien angewiesen, wo unter anderen auch „Sátántangó“ als 3-DVD-Box (Fassungseintrag) in akzeptabler Qualität und mit englischen Untertiteln erschienen ist. Die gute Nachricht: in den USA wurde der Film gerade vom Kameranegativ restauriert und dürfte in absehbarer Zeit in HD-Qualität aus dem Ausland zu beziehen sein – sofern man es nicht am kommenden Samstag ins Berliner Delphi-Kino schafft, wo diese Restaurierung erstmalig gezeigt wird.
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