Institute Benjamenta, or This Dream People Call Human Life (1995)
In Zeiten komplett computeranimierter Trickfilme von Pixar oder Dreamworks, die heute das Genre dominieren, nimmt der handgemachte Stop-Motion-Film eine Sonderstellung ein, gemahnt er doch an eine über 100 Jahre alte, mühsame, langsame und daher vom Aussterben bedrohte Tradition des Filmemachens. Einen besonderen Platz in der Geschichte des Stop-Motion-Films nehmen die Brüder Timothy und Stephen Quay mit ihren äußerst eigenwilligen Kurzfilmen ein, die im August 1995 beim Filmfestival in Locarno erstmals einen Langfilm mit dem barocken Titel „Institute Benjamenta, or This Dream People Call Human Life“ vorstellten, der zudem kein Animationsfilm war.
Der Kosmos der Quay-Filme ist ein sehr spezieller, den sich der Zuschauer erst zu eigen machen muß: es ist das alte Europa des frühen 20. Jahrhunderts mit stark osteuropäischem Einschlag. Ausgehend von der Ästhetik polnischer Filmplakatkunst der 1960 und 70er Jahre beschäftigen sich die Quays mit den Werken hauptsächlich der polnischen und tschechischen Animationskünstler (Borowczyk, Lenica, Svankmajer u.a.) und entwickelten daraus ihren ganz eigenen Stil. Ihre Filme sind geprägt von einer Aura des Vergangenen und des Verfalls, es herrscht eine melancholische Langsamkeit, narrative Gerüste gibt es selten, die visuelle Ästhetik ist staubig und verhangen. Die Sujets beziehen die Quays aus der Bildenden Kunst, der Literatur und der Musik, und so basiert auch „Institute Benjamenta“ auf der Vorlage „Jakob von Gunten“ von Robert Walser, jenem Schweizer Autor der literarischen Moderne, der heute etwas im Schatten von Zeitgenossen wie Kafka oder Musil steht. Ein junger Mann namens Jakob (Mark Rylance) besucht um 1900 eine Dienerschule, die von einem Geschwisterpaar (Alice Krige und Gottfried John) geleitet wird. Schon bald wird Jakob zum Objekt der Begierde der Geschwister und verliert sich in einem Gespinst der Loyalitäten, die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen in den verborgenen Hinterzimmern der maroden Schule. Die Quays präsentieren das verwinkelte Gebäude, in dem der Film ausschließlich spielt, als abgeschlossenen und morbiden Mikrokosmos, der von den Zeitläuften abgekoppelt ist und eigenen Regeln gehorcht: strenge Hierarchie und leere Rituale füllen den Alltag, während sexuelle Obsessionen unter der Oberfläche lauern und gelegentlich ausbrechen, um gleich wieder unterdrückt zu werden. Erst allmählich erschließen sich zunächst rätselhafte, traumähnliche Symbol-Logiken, die typisch für Quay-Filme sind und auch in ihren Kurzfilmen zu finden sind. Die verschleierten und milchigen Schwarzweißbilder werden ergänzt von Lech Jankowskis ungewöhnlicher Musik, die mal nach Dreigroschenoper, mal nach Jazz und dann wieder nach minimalistischer Avantgarde klingt.
„Institute Benjamenta“ zeigt eine zerfallene, todgeweihte Welt, die im Ennui des Fin de siècle steckengeblieben ist, aber doch voller Rätsel und melancholischer Schönheit steckt – treffender ist das ausgehende 19. Jahrhundert selten im Film interpretiert worden. Der Film ist in Großbritannien als Blu-ray/DVD-Combo erhältlich (Fassungseintrag) und mit reichlich Bonusmaterial und einem informativen Booklet ausgestattet.
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