L'enfant sauvage (1970)
Im Mittelpunkt von Truffauts erstem Langfilm, "Les quatre cents coups" (1959), stand ein Kind: Antoine Doinel, gespielt von Jean-Pierre Léaud, dem "L'enfant sauvage" gewidmet ist, welcher am 26. Februar 1970 seine Premiere feierte. Auch in diesem Werk nimmt ein Kind die zentrale Rolle ein, derweil der Regisseur selbst als dessen Lehrmeister und Ziehvater zu sehen ist. Mit "L'argent de poche" (1976) widmete sich der französische Regie-Star dann noch einmal einem ganzen Milieu von Kindern. Ihn mochte eine vermeintliche Unschuld der Kinder gereizt haben, mehr noch der Umstand, dass Kinder erst noch dabei waren, sich bewusst zu einer Gesellschaft zu verhalten; und ein wenig mag ihm seine Liebe zu Kindern auch in die eigene Selbstwahrnehmung gepasst haben, zu der Menschlichkeit und Herzenswärme gehörten (was sich insbesondere in der Wahl seiner Rollen als Schauspieler niederschlug), derweil er die freilich auch bei ihm vorhandenen unschöneren Züge stets ein wenig zu verdrängen schien. In "L'enfant sauvage" ist dieses Entstehen einer bewussten Haltung zur Gesellschaft besonders deutlich wahrnehmbar, handelt es sich doch nach den Aufzeichnungen von Jean Itard um den realen Fall eines Ende des 18. Jahrhunderts im Wald aufgefundenen Kindes, das nicht sprechen zu können scheint und ziemlich verwildert wirkt. Entgegen aller Unkenrufe bemüht sich Itard um eine Sozialisierung des Jungen, die erst allmählich zu gelingen scheint. Beachtlich ist hierbei, dass Truffaut – der nie eine Vorliebe für autoritäre Erziehung zu haben schien – hier nicht umhin kommt, gemäß den Aufzeichnungen Itards auch eine notwendige Strenge der Erziehung zu akzeptieren: Dass der Wolfsjunge zum ersten Mal geweint habe, verbucht Itard nach einer Bestrafung schweren Herzens als einen Erfolg. Hier scheint ein grundlegendes Dilemma der Kindererziehung zu liegen: Straft man mit Freude, straft man aus einer falschen Motivation heraus, straft man trotz Mitgefühl, bricht es einem das Herz. Wohl auch deswegen ist "L'enfant sauvage" ein bewegender, wehmütiger und vielleicht sogar etwas romantischer Film, der sicher zu den stärksten des Filmemachers gehört. Das Werk, zugleich Truffauts letzter reiner s/w-Film für viele Jahre, wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung gar in ihren Filmkanon aufgenommen.
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Kleiner Bonus-Titel, passend zum Weltkindertag… Allen einen ruhigen Sonntag… 😉