La souffle au coeur (1971)
Tabus werden regelmäßig gebrochen in Literatur, Musik, Film, Politik... Ein Tabu jedoch scheint besonders pikant zu sein: das Inzest-Tabu, dessen reine Thematisierung im Kreise der Familie bei vielen bereits Unbehagen auszulösen vermag. Während der Inzest zwischen Geschwistern – aufgrund des fehlenden Generationsunterschiedes und aufgrund eines (unter halbwegs gleichaltrigen Geschwistern) bisweilen gemeinsam erkundeten sexuellen Erwachens – noch etwas eher vertreten ist, stellt der Inzest zwischen herangereiften Kindern und Elternteilen ein selten betretenes Terrain dar. Dabei setzen die Künstler(innen) häufig kokettierend auf das shock value des Tabubruches: in John Waters Kultfilm "Pink Flamingos" (1972) oder in Serge Gainsbourgs Song "Lemon Incest" (1984) etwa; in einem Horrorfilm wie "Sleepwalkers" (1992), in dem die Monstren in Menschengestalt inzestuös zusammenleben, oder in einem Horrorfilm wie "Black Christmas" (2006), in dem ein irrer Slasher von seiner Mutter missbraucht worden ist, wird der Inzest mit dem Bösen schlechthin gleichgesetzt; an Missbrauch und Gewalt gekoppelt wird er auch in Dramen wie "Bad Boy Bubby" (1993) oder "Seul contre tous" (1998)... und eine mythische Figur wie Oedipus ist Blaupause mancher Tragödien, in den die Unwissenheit der Figuren eine bedeutende Rolle spielt.
Ganz anders dagegen tritt die heitere Romanze "La souffle au coeur" auf, die am 28. April 1971 erstmals zu sehen war: Louis Malle schickt hier einen pubertierenden Teenager mit seiner Mutter in den 50er Jahren in ein Kurhotel, wo Mutter und Sohn – nachdem Letzterer sie mit einem Liebhaber erblickt hat – sexuellen Verkehr miteinander haben, ohne dass daraus ein Drama hervorgehen würde. Das Ganze wird sich nicht mehr wiederholen, muss aber auch nicht weiter bereut werden; der gewissermaßen zum Mann gewordene Sohn verbringt im Anschluss eine Nacht mit einer Gleichaltrigen; am Schluss des Films herrscht ausgelassene Freude im Kreise der Familie. Malle hat mit seiner einfühlsamen Coming of Age-Geschichte, die gerade nicht moralisierend den Tabubruch als verhängnisvolles Ereignis inszeniert, einen der ungewöhnlichsten und wichtigsten Filme zum Thema gedreht... das war 1971 möglich; inmitten des Siegeszugs der sexuellen Revolution, deren Utopien teilweise später an Kommerzialisierungen, übersehenen Machtstrukturen oder Missbrauchsvorfällen scheiterten. Insofern wirkt die Offenheit dieses damaligen Skandalfilms heute fast noch irritierender als zu Uraufführungszeiten.
In seinem höchst lesenswerten Review stellt buxtebrawler nicht bloß den Tabubruch, sondern auch den Kontext, in dem er sich ereignet, vor.
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