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von PierrotLeFou

Vor 100 Jahren: Phantastische Stummfilme aus der Tschechoslowakei

Stichwörter: 1920er Drama Hloucha Horror Jubiläum Klassiker Kolár Kriminalfilm Lamac Liebesfilm Ondra Phantastik Pistek-st. SciFi Spielfilm Stummfilm Tschechoslowakei

Príchozí z temnot (1921) & Otrávené svetlo (1921)

Der tschechische Film ist vor allem bekannt für die international renommierten Autorenfilme der Nová vlna, der Neuen Welle im Vorfeld und während des Prager Frühlings, und natürlich für die Kinder- und Märchenfilme aus der Zeit danach. Der tschechische Genrefilm zieht indes nur wenig Aufmerksamkeit auf sich und gerade der phantastische Film wird – abseits von den Märchenfilmen – meist bloß anhand einiger weniger Titel registriert. Mehr noch als für den Science-Fiction-Film mit seinen offenkundig gesellschaftlich relevanten Utopien und Dystopien und den literarischen Vorlagen von Autoren wie Karel Capek gilt dies für den Horrorfilm, der eher obskur und suspekt anmuten musste und dementsprechend schon zahlenmäßig weit weniger vertreten ist: "Valerie a týden divů" (1970, Anniversary-Text) ist einer der bekanntesten Titel, ist aber nicht bloß untypisch, sondern darüber hinaus auch der Avantgarde und dem Surrealismus verhaftet und nur zum Teil ein Horrorfilm. "Podpbizna" (1947) von Jiří Slavíček ist in erster Linie als Gogol-Verfilmung konzipiert und rezipiert worden, weniger als Horrorfilm. Man findet gruselige Elemente noch in den abenteuerlichen Familienfilmen zwischen Sci-Fi, Krimi und Komödie wie bei Borivoj Zeman ("Fantom Morrisvillu" (1966)) oder Oldrich Lipský ("Tajemství hradu v Karpatech" (1981)). Der Animationsfilmer Jan Svankmajer rekurrierte mehrfach auf die große Horrorliteratur von Weltliteraturrang und am beharrlichsten hatte sich vielleicht (wenn auch kaum jemals in reiner Form) Juraj Herz in mehreren Filmen – von "Spalovac mrtvol" (1969, Anniversary-Text) über "Morgiana" (1972) und seine Märchenfilme "Deváté srdce" (1978) und "Panna a netvor" (1978) bis hin zum modernisierten Vampirstoff "Upir z Feratu" (1982) – solcher Genrekonventionen angenommen, die in der Tschechoslowakei auf vergleichsweise wenig fruchtbaren Boden fielen. Insgesamt geistern Motive des (klassischen) Horrorfilms meist bloß durch solche Filme, die selber in andere Genres fallen: etwa Jiri Svobodas "Prokletí domu Hajnù" (1988)...
Und doch findet sich einer der reinsten Ausflüge in die Gefilde des Horrorfilms schon sehr früh in der Filmgeschichte: In der jungen Tschechoslowakei erscheint am 14. Oktober 1921 der Stummfilm "Príchozí z temnot", der in den späten 00er Jahren des 21. Jahrhunderts restauriert worden und in den 10er Jahren wieder mehr und mehr registriert worden ist. Den Film inszenierte Jan S. Kolár, der auch das Drehbuch auf Grundlage eines Stoffes des tschechischen Schriftstellers und Science-Fiction-Pioniers Karel Hloucha verfasste – mit Hlouchas Mitwirkung. "Príchozí z temnot" erinnert mit seinem historisierenden Setting, dem Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung sowie dem Motiv des gewaltsamen Begehrens ein wenig an die deutschen Golem-Filme, erzählt aber freilich eine kleinere, weniger legendenbasierte Geschichte rund um düstere Ahnen, Alchemisten, Wiedererweckung, die sich am Ende als Alptraum entpuppt, der zwar Eifersucht und Verlustangst geschuldet ist, letztlich aber doch auch eine unheimliche parallele zum realen Geschen der Zwischenzeit aufweist. Das phantastische Elemente ist somit am Ende nicht völlig vom Tisch – sowenig wie die unheimlichen Momente rückgängig gemacht werden –, aber wie so oft in der Folgezeit des tschechischen bzw. tschechoslowakischen Films wird der phantastisch-horrible Aspekt doch beschnitten und verunreinigt, als Hirngespinst und Alpdruck präsentiert... Vor dem Kamera brillieren in diesem jüngst wiederentdeckten Kleinod (und inmitten einiger reizvoller Außenaufnahmen) der große Theodor Pistek st. in einer seiner allerersten Filmrollen, eine ebenfalls noch vor einer großen Karriere stehende Anny Ondra und Karel Lamac, der als Carl Lamac als Regisseur im deutschen Film Karriere machen sollte.
Mehr zur Handlung ist der Inhaltsangabe von PierrotLeFou zu entnehmen.
Mit Karel Lamac zusammen inszenierte Jan S. Kolár auch den eine Woche später, am 21. Oktober 1921, uraufgeführten "Otrávené svetlo". Hier tritt Kolár an der Seite von Lamac und Ondra auch selber als Schauspieler auf. Und auch dieser Film lässt sich durchaus zu den frühen Beispielen des phantastischen Films in der Tschechoslowakei zählen, wenngleich das hier vertretenen Science-Fiction-Elemente reichlich mild ausfällt und eher ein Element darstellt, das für die abenteuerliche Kriminalhandlung eher die Rolle eines MacGuffins einnimmt: Auslöser der Geschichte ist die Erfindung einer neuartigen Lichtquelle, an der schnell auch ein windiger Illusionist Interesse hat, der sich flugs zum sinister überzeichneten Schurken des Films mausert. Daraus entwickelt sich eine doch recht gewöhnliche Betrugsgeschichte, die lediglich mit dem ersonnenen Mordinstrument – eine mit tödlichem Gas gefüllte Glühbirne, die ab einer gewissen Temperatur zerbirst und das potentielle Opfer dem enthaltenen Gas aussetzt – ein bizarres Element enthält, das den Film von konventionelleren Kriminalfilmen mit Aspekten des Actionfilm, Thriller oder Detektivfilms abhebt. Insbesondere das (erste) Finale, in dem der Held an einen Stuhl gebunden vor erbarmungslos ablaufender Sanduhr dem vergifteten Licht ausgesetzt ist, dürfte sich einem – dank vorbildlicher Spannungsdramaturgie und der satten Portion Kolportage – längere Zeit einbrennen. Indes: trotz des ungewöhnlichen Schurken und der bizarren Mordvorrichtung bleibt die eingangs als revolutionäre neuartige Beleuchtungsform eingeführte Erfindung ein MacGuffin, wobei die Auswirkungen und Möglichkeiten dieser (auch nicht sonderlich faszinierenden) Erfindung nicht weiter vorgeführt werden...
Beide Filme sind englisch untertitelt auf dem Kanal Česká filmová klasika auf YouTube zu sichten, der in Zusammenarbeit des Národní filmový archiv, des Státní fond kinematografie und der DILIA betrieben wird.


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