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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Wüstes Sklaverei-Drama zwischen Rassismus und Anti-Rassismus, zwischen Spielfilm und Semi-Dokumentarfilm

Stichwörter: 1970er Dokumentarfilm Drama Essayfilm Filmreihe Historienfilm Italien Jacopetti Jubiläum Klassiker mockumentary Mondo Ortolani Prosperi Skandalfilm Spielfilm

Addio zio Tom (1971)

Heute ist der von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene International Day for the Abolition of Slavery. Anders als bei dem am 28. August begangenen International Day for the Remembrance of the Slave Trade and its Abolition rücken hierbei mehr Gegenwart und Zukunft in den Blick, weniger die Vergangenheit. Moderne Sklaverei, ohne offizielle Sklav(inn)enbesitzer(innen) daherkommend, umfasst zumeist Erscheinungsformen wie Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft, Menschenhandel und Zwangsehen, Kinderarbeit, Kindersoldatentum – und je nach Handhabung des Begriffs auch mildere Formen der Ausbeutung, die im Gewand der Freiwilligkeit auftreten: etwa im Fall der Gastarbeiter, die sich Deutschland in den 60er Jahren zugelegt hat und die dann keiner haben wollte, im Fall der Saisonarbeiter(innen), der osteuropäischen Pflegekräfte als persönliche 24/7-Pflegekräfte, der Hausmädchen, der ausländischen Arbeitskräfte in den Subunternehmen umstrittener Schlachtbetriebe... Und spätestens mit einem Rückgriff auf verlockende Niedrigstpreise kann man sich höchtselbst in diesem Phänomen verstricken.
Ausbeutung, exploitation... Damit könnte man hier anfangen. Aber vorher ist es noch einmal sinnvoll, auf die Gruppe der Opfer diverser Formen moderner Sklaverei zu blicken, die gemeinhin schätzungsweise rund 25-40 Millionen Menschen ausmachen sollen (wobei es ja nach Definition moderner Sklaverei auch Schätzungen gibt, die im Extremfall von bald 300 Millionen Menschen ausgehen): Es sind vor allem Frauen; viele Kinder – und wenn es Männer sind, so kommen sie heute vergleichsweise selten aus West- und Nordeuropa oder aus Nordamerika... Moderne Sklaverei fußt – nicht immer, aber häufig – auf finanziellen Ungleichheiten und Abhängigkeiten; und damit auch auf – kaum davon abtrennbarer – Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit oder Migration. Der Geist des Kolonialismus scheint hier weiterzuwehen...
Und deshalb passt ein – am 30. September 1971 uraufgeführter – "Addio zio Tom", wenn man ihn nicht (was wahrlich verständlich wäre) aus Gründen der Pietät grundsätzlich ausschließt, doch auch ganz gut zum International Day for the Abolition of Slavery (und nicht etwa bloß zum  International Day for the Remembrance of the Slave Trade and its Abolition). Denn "Addio zio Tom" verbindet, ja verschmilzt die (damalige) Gegenwart der 1970er Jahre mit der Vergangenheit – und rückt auch die eigene exploitation irritierend ins rechte Licht.
Die Regisseure, Gualtiero Jacopetti und Franco Prosperi, waren 1971 kein unbeschriebenes Blatt mehr: Ihr "Mondo Cane" (1962) – einst mit Oscar- und Palme d'ore-Nominierungen bedacht und immerhin von Steven Jay Schneider in seine "1001 Movies"-Sammlung aufgenommen – war Anfang der 60er Jahre ein beachtlicher Erfolg, der späterhin als einer der ersten Klassiker eines kurzlebigen Phänomens gewertet wurde, das die Bezeichnung Mondo-Film trägt. Späterhin vom Fandom zu einem regelrechten Genre erklärt, dem skandalheischende mockumentaries und Dokumentarfilme ebenso zugerechnet werden wie später entstandene (semi-)dokumentarische Schock-Clip-Kompilationen à la "Faces of Death" (1978), ist im Grunde ein Phänomen, das sich etwa von 1959 bis 1979 im italienischen Kino finden ließ und dabei Spielfilme, Dokumentarfilme und Semi-Dokumentarfilme zugleich betraf. Kern des Phänomens ist indes der Entwurf eines Welt-Bildes, das das Tabuisierte, Verdrängte und Abjekte an die (Leinwand-)Oberfläche holt, auf die voyeuristische Schaulust eines Publikums setzt, um ihm Eindrücke einer triebgesteuerten, gewalttätigen oder aber erschreckend anders- und fremdartigen Welt zu vermitteln. Die Konzentration auf das Fremd- und Andersartige sollte später zu diversen Mondo-Filmen über den afrikanischen Kontinent führen, von denen viele teils höchst problematisch sind – zumal in deutschen Synchronfassungen, mit ihrem ungezwungenen Jargon voller unangebrachter Witzeleien und latent rassistischem Anstrich. "Mondo Cane" indes teilte gegen alle aus – sei es im asiatischen, im afrikanischen, im europäischen oder amerikanischen Raum – und mied den einseitig schaulustigen, fasziniert-angewiderten Blick auf fremde Gebräuche, indem immer auch gleich die adäquaten eigenen Gepflogenheiten gegenübergestellt worden sind. Gleiches galt auch für einen späten Mondo-Film der – wie Franco Prosperi durchaus akademisch bewanderten – Gebrüder Castiglioni, "Addio ultimo uomo" (1978), der sich im Titel an Jacopetti-/Prosperi-Filme anlehnt und dem Blick auf (teils inszenierte) afrikanische Stammesrituale und Alltagshandlungen Kuriositäten aus dem europäischen Raum gegenüberstellt: etwa drastische Fettabsaugungen und Nasenkorrekturen. Das Gros der Mondo-Filme – wobei es im engeren Sinne kaum ein Gros dieser Filme gibt, es dürften eher unter hundert sein – war indes einseitiger und simpler (und auch weniger ambitioniert) und zog, sofern es überhaupt Beachtung fand, Ablehnung auf sich. Was Ousmane Sembène 1965 an Jean Rouchs Klassiker "Les maîtres fous" (1955) kritisierte, sollte bereits um so mehr auf das Gros der Mondo-Filme zutreffen...
Aber auch Jacopetti und Prosperi waren reichlich umstritten, spätestens seit "Africa addio" (1966) über Angola, Kenia, den Kongo sowie Sansibar und Pemba zwischen Kolonisations- und Bürgerkriegserfahrung: Dass Massenexekutionen extra für ihre Kameras aufgeschoben worden sein sollen, sorgte zurecht für Empörung. Andererseits sind etwa Massenexekutionen bei Sansibar in Form von "Africa Addio" überhaupt filmisch dokumentiert worden. Der schon in "Mondo Cane" vorherrschende zivilisationskritische, pessimistische, teils zynische und mithin misanthrophisch anmutende Gestus des Films brachte eine Vielzahl von Kritikern gegen sich auf: Roger Ebert sah hier Rassismus am Werk, Octavio Getino und Fernando Solanas sahen in Jacopetti einen Faschisten, hierzulande demonstrierten Student(inn)en in einer frühen antirassistischen Protestaktion gegen den Film.
"Addio zio Tom" scheint sich solcher Vorwürfe bewusst zu sein – und rückt anhand der Geschichte der Sklaverei (und zum Teil anhand der Bürgerrechtsbewegung) wieder mehr den Blick der Weißen auf die Afrikaner(innen) und Afro-Amerikaner(innen) ins Zentrum; und zwar sowohl den Blick der weißen Figuren als auch den eigenen (Kamera-)Blick, wobei immer wieder auch das voyeuristische Interesse eines weißen Publikums adressiert, thematisiert und vorgeführt wird. Letzteres gelingt über die Form des Films, der eine Art Bindeglied zwischen ihren früheren Filmen und dem essayistischen Spielfilm "Mondo Candido" (1975) nach Voltaire darstellt: "Addio zio Tom" beginnt – im Director's Cut – mit maschinisierten Baumwollpflückern der Gegenwart (Beständigkeit trotz Wandel!), als Martin Luther Kings Ermordung bekannt gegeben wird... und zeichnet dann ein Bild von Black Power und Straßenunruhen, um dann eine greise rassistische Dame hinter ihrem farbigen Chauffeur über die Südstaaten-Vergangenheit sinnieren zu lassen: über die "gewöhnlichen schwarzen Sklaven" und die besseren Toms. (Wer "Addio zio Tom" heute sieht, dürfte darin wie in Richard Fleischers "Mandingo" (1975) eine zentrale Vorlage für Quentin Tarantinos "Django Unchained" (2012) erblicken.) Nach einer überzeichneten Black Power-Perspektive auf despektierlich gezeichnete Weiße geht es dann in die Vergangenheit: Jacopetti und Prosperi werden mitsamt ihrer Kamera von der Gastgeberin eines Dinners in den alten Südstaaten empfangen; ihnen sei gestattet worden, sich frei zu bewegen und umzusehen, um ihre Reportage über Sklaverei zu drehen. Es folgen allerlei drastische Episoden, in denen immer wieder eine lächerlich gezeichnete White Supremacy vorgeführt wird, deren Fürsprecher(innen) überheblich, unlogisch, menschenverachtend, höchstgradig unsympathisch, hässlich, niedrig, machthungrig, geizig, sadistisch oder dummdreist auftreten – derweil die Sklav(inn)en zumeist in gedemütigter, gepeinigter, verstümmelter, eingesperrter, verschmutzer Form (und selten als Individuen, mehr als Kollektiv, als Ware) vorgeführt werden. Daseinsformen, die zwar im Film stets über die Misshandlungen der selbsternannten Besitzer(innen) begründet werden, die aber eben auch eine Reproduzierung der verhandelten rassistischen Sichtweisen (des ungebildeten, schmutzigen, triebhaften Schwarzen) darstellen, die nur all zu selten aufgebrochen wird. Zwar findet man natürlich auch unter den weißen Sklavenhalter(inne)n keine Identifikationsfiguren, aber anders als spätere Sklaverei-Dramen wie "Django Unchained" oder "12 Years a Slave" (2013) findet man eben auch unter den farbigen Sklaverei-Opfern keine: Und "Addio zio Tom" liefert (den Black Power-Einsprengseln zum Trotz) kein befriedigendes Empowerment, keine Rape & Revenge-Strukturen, auch keine utopische Harmonie, bleibt also eine erniedrigende Erfahrung... Zudem werden die Sklaven nicht ausschließlich als Erniedrigte präsentiert: in einer Szene, in der ein Sklave wegen seines Sexualtriebs der Kastration zugeführt werden soll, herrschen Schaulust und Schadenfreude vor allem unter anderen anwesenden Sklaven. Aber gerade hier halten sich Jacopetti und Prosperi zurück, lassen die Kastration hinter geschlossenen Türen stattfinden, stellen kurzzeitig eine Schlüsselloch-Perspektive des Voyeurs in Aussicht, schneiden dann aber doch nur auf eine schadenfroh-sadistische weiße Frau, die direkt in die Kamera sprechend mit gellendem Gelächter zur Betrachtung des Vorgangs einlädt. (Und die Filmemacher schneiden zweimal von ihrem schlechten Gebiss während ihres Lachens auf die makellosen Gebisse des schreienden Kastrationsopfers sowie einer weinenden farbigen Frau auf einer Beerdigung in der Gegenwart.)
Jacopetti und Prosperi – die kurzzeitig auch die Ausrottung der native americans sowie den Holocaust anspielen – lassen keine Zweifel bezüglich ihrer Verurteilung von Sklaverei und White Surpremacy, geben aber – was reichlich Angriffsfläche bietet – den Rassismusopfern keine Stimme; zeigen bloß kurzzeitig kämpferische Black Power-Momente (teils angereichert um anti-weiße Schmähungen) und viele, immens viele Eindrücke erniedrigter Sklav(inn)en. Die Filmplakate, die nahezu alle Farbige in Ketten oder Käfigen zeigen, sprechen da bereits eine klare Sprache. Aber doch schafft es "Addio zio Tom" – und sei es unfreiwillig – den eigenen Voyeurimus (vor allem auch des Publikums) vorzuführen und bloßzustellen und die eigene Arbeit als Mittäterschaft auszuweisen: Ein bisschen wie in Peter Watkins semi-dokumentarischer Dystopie "Punishment Park" (1971) – oder später in "C'est arrivé près de chez vous" (1992) – macht sich das Filmteam, das hier nur beiwohnt und mitfilmt und gelegentlich verhalten Widerspruch andeutet, mitschuldig an den begangenen Gräueln. Jacopetti, der ehemalige Kriegskorrespondent, tappst hier (hinter der Kamera, aber im Dialog teilweise vernehmbar) mit Prosperi betont naiv durch die Szenarien. Das ist keine Neutralität eines ohnmächtigen Kriegsberichterstatters, sondern eine beschämende Form von Opportunismus, die sich Jacopetti und Prosperi (womöglich unter dem Einfluss der "Africa addio"-Kritiken) hier auf den Leib schneidern. Am eindringlichsten sicherlich dort, wo eine 13-jährige Sklavin den Mann mit der Kamera (und mit ihm das Publikum) zum Beischlaf auffordert, woraufhin dieser und die Kamera und das Publikum sich kurz vergewissern, ob denn auch niemand zusieht, bevor sie nur allzu willig nachgeben... Mittäterschaft an der Ausbeutung, exploitation, gibt sich hier als solche zu erkennen. (Womit der Film neben "Addio ultimo uomo" auch zu den Vorbildern von Ruggero Deodatos teils semi-dokumentarischem Kannibalenfilm "Cannibal Holocaust" (1979) gehören könnte. Den Soundtrack lieferte dort übrigens Riz Ortolani, der auch "Mondo Cane", "Africa addio" und "Addio zio Tom" musikuntermalte...)
Sowenig "Addio zio Tom" bei allem anti-rassistischen Engegement mit seinen problematischen Reproduktionen rassistischer Blickwinkel – gerade auch nach #BlackLivesMatter – in die heutige Zeit zu passen scheint, so schafft er doch immerhin eins: Er erschafft (nicht über seine Geschmacklosigkeiten allein, sondern auch über seine metafilmische Selbstreflektion) ein Gespür für die exploitation, für die Ausbeutung von Themen und Misständen für das filmische Spektakel, an dem Filmschaffende und Publikum gleichermaßen teilnehmen: Reales Leiden in unterhaltsame Spielfilmform gießen zu wollen, hat immer etwas Angreifbares an sich und verlangt nach Feingefühl und Mitleid. Und der Film zieht eine Linie von der Sklaverei der alten Sklavenhalter(innen) zur sklavenhalter(innen)losen Ausbeutung etwa im kommerziellen Film, woran das Publikum einigermaßen bereitwillig teilnimmt – und streift damit auch die hochaktuellen Debatten um kulturelle Aneignung und Kolonialgeschichte. Für all dies schafft ausgerechnet dieser in nackter Haut, Fäkalien und Sadismen watende Mondo-Film ein Gefühl – und ist in Zeiten von "Was darf das Kino..." vielleicht doch wieder hochaktuell.
Seit fast 17 Jahren liegt der skandalheischende Film in Kino- und DC-Version als ähnlich skandalheischende DVD bei X-NK vor (der das seriösere Bonusmaterial heutiger X-Rated-Veröffentlichungen noch abgeht): Fassungseintrag von Full-Pull


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