Die Gezeichneten (1922) & Der var engang (1922)
Carl Theodor Dreyer, Dänemarks vielleicht noch heute bedeutendster Filmemacher, drehte einen guten Teil seiner Filme im Ausland; von 14 Langspielfilmen entstehen nur sieben als dänische Produktionen. Den zweiten Platz teilen sich Deutschland und Schweden mit jeweils drei Produktionen (davon je eine in Koproduktion mit Frankreich bzw. mit Norwegen); wobei die deutschen Produktionen mit Erscheinungsjahren zwischen 1922 und 1932 vergleichsweise dicht beieinanderliegen und zudem mit Dreyers Hinwendung zum Tonfilm enden. Der erster dieser deutschen Filme ist "Die Gezeichneten", der am 7. Februar 1922 erstmals aufgeführt wird: Diese Verfilmung eines Romans des in Schweden geborenen Dänen (deutscher Abstammung) Aage Madelung, der mit seiner jüdischen Frau mehrere Jahre in Russland lebte, lässt in aufwendigen Kulissen in der Nähe von Berlin das Russland des frühen 20. Jahrhunderts auferstehen, um in diesem Setting ein Thema zu behandeln, das insbesondere in Deutschland in kürzester Zeit allerhöchste Aktualität besitzen sollte: den grassierenden Antisemitismus, den schon der deutsche Stummfilm "Der gelbe Schein" (1918, Anniversary-Text) in Russland ansiedelte. "Die Gezeichneten", der die Stigmatisierung der Juden noch deutlicher als "Der gelbe Schein" in den Titel einbindet, reiht sich ein in eine ganze Reihe deutscher Stummfilme über jüdisches Leben und fanatischen Antisemitismus: Duponts "Das alte Gesetz" (1923), Breslauers "Die Stadt ohne Juden" (1924) und mit Abstrichen auch Wegeners "Der Golem, wie er in die Welt kam" (1920) wären etwa noch zu nennen. Gerade Lai(inn)en in filmhistorischer Hinsicht staunen nicht schlecht, wie stark das Thema vor 1933 schon präsent war; die Shoa wirkt vor diesem Hintergrund, falls das denn möglich ist, noch verstörender, insofern die Warnungen im populärsten Massenmedium überhaupt in den 20er Jahren schon zuhauf vorhanden waren. Zugleich ist das Vorhandensein dieser Themen im Kino sehr verständlich, profitierte der deutsche Film vor 1933 doch erheblich von jüdischen Filmschaffenden, die den Blick der Filmbranche für die Thematik schärfen konnten. Madelungs Literaturvorlage erlebte in Dreyers Fall sogar einen kleinen Boom auf dem deutschen Buchmarkt nach Erscheinen des Films, der eine junge Jüdin im Vorfeld der ersten russischen Revolution zu ihrem Bruder nach St. Petersburg reisen lässt, wo dieser sich eine neue Existenz aufgebaut hat, für die er allerdings sein Judentum verleugnete und zum Christentum konvertiert ist; diese Situation eskaliert fortan erheblich und der immens aufwendig produzierte, handwerklich souverän gestaltete und beachtlich montierte Film ist heute kaum ohne Bauchschmerzen anzusehen. Damals erntete Dreyers Film hierzulande gute Kritiken, errregte aber kein übermäßig großes Publikumsinteresse: wenn es auch reichte, um der Vorlage einen kleinen Popularitätsschub zu bescheren. Der nur noch als kürzere Rumpffassung erhaltene Klassiker ist recht günstig als absolut Medien-DVD zu bekommen: Fassungseintrag von Freddy J. Meyers. Dreyer-Komplettisten dürften indes mehr von der dänischen Blu-ray haben, die noch den vorangegangenen Dreyer enthält: Fassungseintrag von Hank Quinlan 1958
Für "Der var engang", seinen am 3. Oktober 1922 uraufgeführten Märchenfilm, kehrte Dreyer wieder nach Dänemark zurück – und vollzog thematisch eine ziemliche Kehrtwende. Der Film blickt nicht etwa zwei Dekaden zurück, sondern nach einer Bühnenstück-Vorlage des dänischen Dichters Holger Drachmann ins schon von Shakespeare aufgegriffene Illyrien, wobei der märchenhafte Titel ("Es war einmal") eine abstrakte Nicht-Zeit bereits ausweist. Beinahe schon mit einem leichten Lubitsch-Touch ausgestattet ist diese lockere Fantasy-Liebes-Komödie ein Unikum im Schaffen Dreyers, das der Meisterregisseur selbst nie sonderlich schätzte: Ausstattung, Fantasie und Humor stehen im Mittelpunkt, die Beziehungen und Charaktäre bleiben indes etwas reißbrettartig und einfach, was im Kontext des dreyerschen Gesamtwerks um so deutlicher ins Auge fällt. Eine Beurteilung ist allerdings nicht so ganz einfach, da der Film bloß als Rekonstruktion zugänglich ist, die auf etwa 50% des Films ausmachenden Fragmenten beruht. Diese hat ebenfalls Det Danske Filminstitut in Form einer zufriedenstellenden DVD (mit Neil Brands Musikuntermalung) herausgebracht, die allerdings nur wenige Extras darbietet: Fassungseintrag von leplaisirdeyeux
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