1909 hatte sich D. W. Griffith bereits mit “Edgar Allan Poe”, einem kurzen, tragischen Biopic, dem großen amerikanischen Schriftsteller gewidmet. Fünf Jahre später ließ er dann eine Poe-Verfilmung folgen. Nachdem Griffith in “Judith of Bethulia” (1914) – dem ersten Langfilm der Biograph – bereits einen künstlerischen Erfolg mit einem durch die italienischen Monumentalfilme beeinflussten four-reeler verbuchen konnte, der jedoch zum Zerwürfnis mit dem Studio führte, experimentiere Griffith im Rahmen der Majestic Motion Picture Company und des Verleihers Mutual mit dem relativ neuartigen Format des Langfilms.
“The Avenging Conscience: or ‘Thou Shalt Not Kill’” ist der letzte dieser Fingerübungen vor Griffiths Opus Magnum “Birth of a Nation” (1915) und erschien ein halbes Jahr vor diesem, im August 1914 in den Kinos. Im Gegensatz zu den übrigen Langfilmen dieser Übergangsphase – allesamt vergleichsweise kleine, intime Dramen zwischen den opulent ausgestatteten Historienepen – konnte sich diese Poe-Verfilmung aufgrund ihres Status des ersten Lang-Horrorfilms des US-amerikanischen Kinos bis heute behaupten, wenngleich es sich in erster Linie eher um ein psychologisches Kriminaldrama handelt, das gegen Ende noch mit einer Fantasy-Nummer aufwartet. Die an “The Tell-Tale Heart” (1843) angelehnte Geschichte eines jungen Mannes, der zum Mörder an seinem missgünstigen Onkel wird und – vom schlechten Gewissen geplagt – die vermeintliche Wiederkehr des Toten durchleidet, zählt allerdings nicht zu den bedeutsamen Pionierleistungen Griffiths, wenngleich sie durchaus durchdacht in Szene gesetzt worden war: opulente Schauwerte sind kaum zu finden, hübsche Bildkompositionen dafür umso mehr; die Montage setzt Griffith auch hier sehr souverän (was gerade auch für Überblendungen und die Nahaufnahmen der vom Protagonisten betrachteten Insekten gilt), wenngleich auch etwas behäbig ein; Zeitrafferaufnahmen lassen sich ebenso entdecken wie eine inzwischen doch eher unbeholfen wirkende Form der Blicklenkung mittels der Öffnung, Schließung und Verlagerung einer Blende. Etwas befremdlich mag heutzutage auch die Eindimensionalität einiger Figuren wirken; der erhobene Zeigefinger mit seiner ausgeprägten christlichen Frömmigkeit, der auch am Ende von “Birth of a Nation” wiederkehren sollte, mag diesen unangenehmen Beigeschmack noch verstärken. Und dann wäre da noch ein Plottwist gegen Ende, den man sich heutzutage kaum noch zu bringen trauen würde.
Dennoch ist “The Avenging Conscience: or ‘Thou Shalt Not Kill’” einer der besseren Filme seines Jahrgangs: souverän inszeniert und mit einer – für frühe Langfilme – erstaunlich stimmigen Dramaturgie ausgestattet, wenngleich diese gegen Ende kurzzeitig ins Holpern gerät. Weshalb sie holpert? Darüber wird sinniert im Fassungseintrag von Hank Quinlan 1958
PierrotLeFou
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