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Eine runde Sache: die Anniversary-Ecke

Vor 50 Jahren: Geburt des militanten Kinos in Argentinien – 1968-Retrospektive XIII, Lateinamerika II

20. Juli 2018 | Stichwörter: 1960er, 1968-Retrospektive, Agitationsfilm, Argentinien, Birri, Dokumentarfilm, Essayfilm, Ivens, JubilĂ€um, Klassiker, Lateinamerika, Octavio, Propaganda, Solanas


La hora de los hornos (1968)

Das lateinamerikanische Kino beginnt natĂŒrlich nicht erst in den 50er Jahren, aber in den 50er Jahren treibt es entscheidende BlĂŒten: Filmclubs, Filmzeitschriften und Filmfestivals (etwa in Montevideo) entstehen zuhauf – und vor allem der neorealistische Film aus Italien gelangt mehr und mehr zu einem recht populĂ€ren Ruf. (Viele der lateinamerikanischen Filmemacher sollten zudem in Rom ihr Handwerk erlernen.) Insbesondere sozial und politisch engagierte Intellektuelle erblicken im Film eine Möglichkeit, breitenwirksamer zu agieren. In diesem Klima kommt es zum einen zu einem Boom an Kurz-Dokumentarfilmen in vielen LĂ€ndern (etwa vom Peruaner Manuel Chambi, vom Bolivianer Jorge Ruiz oder vom Argentinier Fernando Birri), zum anderen zu neorealistisch gefĂ€rbten Spielfilmen von Regisseuren wie z.B. Nelson Pereira dos Santos.
In Kuba hatte das ICAIC Ende der 50er Jahre eine neue nationale Filmkultur ermöglicht und vor allem zahlreiche Dokumentarfilme und Kurzfilme hervorgebracht. Unter Santiago Álvarez entstand dann zunehmend ein militantes Kino mit antiimperialistischem Gestus, das sich aus der Dokumentarfilm-Schule speiste, aber eher zu Essay- und Agitationsfilmen zu zĂ€hlen wĂ€re. In Bolivien prĂ€gte hingegen Jorge Sanjines Mitte der 60er Jahre mit der Gruppe Ukamau revolutionĂ€re, nahezu agitatorische Spielfilme, die sich aber meist an die Indios der Anden richteten und auf andere lateinamerikanische RĂ€ume nur einen beschrĂ€nkten Einfluss hatten. In Brasilien war es vor allem Glauber Rocha, der die vom Neorealismus beeinflusste Filmlandschaft des Landes im Cinema Novo - auch unter Einfluss der Nouvelle Vague – revolutionierte und ein politisch engagiertes Kino schuf, das Folklore, Mythen und agitatorische Momente miteinander verband.
SpĂ€testens ab Mitte der 60er, als sich das politische Klima in vielen lateinamerikanischen LĂ€ndern zuspitzt, vermehren und radikalisieren sich revolutionĂ€re, agitatorische Filmemacher zunehmend: Mario Handler in Uruguay, Ugo Ulive in Uruguay und Venezuela, TomĂĄs GutiĂ©rrez Alea in Kuba, Fernando E. Solanas und Octavio Getino in Argentinien…
Solanas & Octavio waren es auch, die mit ihrem Manifest “Hacia un Tercer Cine” (1969) die Bedeutung eines Dritten Kinos fĂŒr Argentinien (aber auch fĂŒr Lateinamerika insgesamt) herausgestellt hatten. Solch ein Kino gab es um 1968 auch in zahlreichen LĂ€ndern in Nordamerika, Europa und Asien, aber im lateinamerikanischen Kino bildete es eine besonders wichtige Dominante. Und “La hora de los hornos” (1968) gilt als Musterbeispiel solch eines Dritten Kinos.
Als “Erstes Kino” bezeichneten Solanas & Octavio den klassischen kommerziellen Film (der im argentinischen Kino gerade in den 40er Jahren eine Schlappe erlebte, als er vermehrt auf den internationalen Markt blickte). Als “Zweites Kinos” wurde von ihnen hingegen das Kino des auteurs gefasst, ein cine expresiĂłn, das Bestandteil des nuevo cine argentino wĂ€hrend des Peronismus war: Torre Nilsson oder Fernando Birri gehörten etwa fĂŒr sie dazu… Und der Dokumentarfilm war ausdrĂŒcklich Bestandteil eines solchen Autoren-Kinos. Allerdings erschien ihnen die UnabhĂ€ngigkeit dieser Filme(macher) trotz eigener Vertriebssysteme als bloße Schein-UnabhĂ€ngigkeit: Das “Zweite Kino” hielt sich in den jeweiligen Grenzen des Systems auf, besaß eine vergleichsweise eingeschrĂ€nkte politische Wirksamkeit und redproduzierte letztlich die QualitĂ€t des “Ersten Kinos” fĂŒr ein elitĂ€res Minderheiten-Publikum. An dritter Stelle steht dann das “Dritte Kino”, das auf einer “Entmystifizierung der Technik” grĂŒndet, einen geradezu militanten anti-neokolonialistischen Kurs einschlĂ€gt und quasi mit Guerilla-Taktiken produziert und vertrieben wird: ohne AnkĂŒndigung in Kinos gezeigt, in Clubs vorgefĂŒhrt usw. Der argentinische Soziologe und Drehbuchautor Jorge Hönig zeichnete in einer kurzen Geschichte des argentinischen Kinos eine ganz Ă€hnliche Entwicklung: “La hora de los hornos” steht fĂŒr ihn schließlich fĂŒr das “Dritte Kino” ein.
180 Stunden 16mm-Filmmaterial – vielfach Interviews – wurden angehĂ€uft; zwei, drei Jahre hindurch unter den schwierigen Bedingungen der MilitĂ€rdiktatur. Dabei geht es den Filmemachern vor allem darum, den Neokolonialismus sichtbar zu machen, der den Export von Rohstoffen und den Import US-amerikanischer und europĂ€ischer KonsumgĂŒter gewĂ€hrleiste und innerhalb Argentiniens asoziale Entlohnungen der Arbeiter bedinge. Bald 4œ Stunden lĂ€uft das dreiteilige Werk. Im ersten Teil (Neokolonialismus und Gewalt) werden Geschichte, Politik und Ökonomie in Argentinien abgehandelt, wobei Intellektuelle und Arbeiter gleichermaßen angesprochen werden. Dabei wird insbesondere auf eine Empörung und emotionale Reaktion des Publikum spekuliert: am eindrĂŒcklichsten sicherlich in jener Szene, in der das verborgene Geschehen eines Schlachthausalltags dokumentiert und zu einlullender Musik mit Werbe-Bildern montiert wird. Diese an Eisensteins “Stachka” (1925) und Franjus “Le sang de bĂȘtes” (1949) geschulte Szene liefert ein affizierendes Schockbild fĂŒr die unsichtbare Ungerechtigkeit und der schönen OberflĂ€che des alltĂ€glichen Lebens – und weist Ähnlichkeiten zu weiteren subversiven Spiel- und Essayfilmen der spĂ€ten 60er und frĂŒhen 70er Jahre auf. Überhaupt besitzt dieser Kinoguerilla-Streifen eine beachtliche Form: Opernarien, Latin und Pop-Musik, Off-Kommentare, O-Ton, erzitternde Kamerabilder, grobe Handkameraaufnahmen und saubere Schwenks, Montagen aus Statuen, Stichen und GemĂ€lden, geschickt platzierte Archivaufnahmen, geborgte Szenen von Fernando Birri und Joris Ivens… alles fließt hier in beeindruckender Form zusammen um dient effektiv dem agitatorischen Anliegen. Am Ende des ersten Teil steht dann die zweite berĂŒchtigte Szene des Films: Das Gesicht des Leichnams von Che – drei Minuten als Standbild zu aufpeitschenden TrommelklĂ€ngen.
Der zweite Teil (Akt der Befreiung) prĂ€sentiert dann die Phase des Peronismus als eine nationale Befreiung, ehe er die Folgezeit bis 1966 schildert. Die Zeichnung des Peronismus ist nicht bloß formal weniger erstaunlich, sondern gibt auch inhaltlich mehr AngriffsflĂ€chen fĂŒr Kritik ab: Peron, der immerhin immer wieder mit den Nationalsozialisten harmonierte, wird recht eindimensional verhandelt und ausgesprochen positiv bewertet. Der dritte und kĂŒrzeste Teil (Gewalt und Befreiung) widmet sich dann den Erfahrungen und Ansichten bezĂŒglich der Notwendigkeit von Gewalt fĂŒr die Befreiung.
“La hora de los hornos” ist ein Film, der neben vielen Klugheiten auch einige Dummheiten aufweist, der inszenatorisch nicht durchgĂ€ngig die EffektivitĂ€t seines ersten Teil bietet, dessen Sichtung zudem wegen der FaktenfĂŒlle – gerade im RĂŒckblick nach 50 Jahren – einen wahren Kraftakt darstellt. Seinen Status als Meilenstein des lateimamerikanischen militanten Kinos hat er aber zurecht inne. Er ist der monolithische Klotz nicht bloß des argentinischen, sondern des lateinamerikanischen militanten Kinos schlechthin – der im Ausland ab dem Juni 1968 die Festivals eroberte und in Argentinien nur inoffiziell zu sehen war. (Vergleichbar ist allein vom Umfang her allenfalls noch Patricio GuzmĂĄns dreiteilige Chile-Doku “Batalla de Chile” (1975-1979), die allerdings mit französischer UnterstĂŒtzung dank Chris Marker angefertigt worden ist.)
Solanas’ & Octavios Hauptwerk liegt auf zwei DVDs bei Trigon vor: Fassungseintrag von PierrotLeFou


PierrotLeFou



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