Während auf der aktuell laufenden Berlinale die neuesten Filme aus aller Welt vorgestellt werden, widmen sich die Feuilletons einem ganz besonderen Jubiläum und ĂĽberbieten sich dabei an Superlativen: “Das Cabinet des Dr. Caligari” ist der erste expressionistische Stummfilm, der erste Psycho-Horrorthriller, der wichtigste deutsche Film ĂĽberhaupt. Und tatsächlich hat der Film von Regisseur Robert Wiene, der am 26. Februar 1920 in Berlin Premiere feierte, eine nahezu ungebrochene Rezeptions- und Erfolgsgeschichte zu verzeichnen, wenn man von den Jahren der NS-Diktatur absieht, während der er als “entartet” verboten war.
Wohl kaum ein Stummfilm steht dergestalt fĂĽr das deutsche Weimarer Kino (dessen Protagonisten später in Hollywood die Ă„sthetik prägen wĂĽrden), fĂĽr die Experimentierfreudigkeit des Mediums Film und fĂĽr die Verbindung spät- bzw. schauerromantischer Fabulierlust mit modernen psychologischen und gesellschaftlichen Diskursen. Der EinfluĂź von “Caligari” kann gar nicht ĂĽberschätzt werden, er findet sich in den ihm nachfolgenden deutschen Stummfilmen der 1920er Jahre, in der Wave/Gothic-Ă„sthetik der Popmusik seit den 80er Jahren ebenso wie in den Filmen Tim Burtons. Noch in Scorseses “Shutter Island” (2010) und seinem unzuverlässigen Erzähler läßt sich als Keimzelle jene narrative Konstellation aus “Caligari” identifizieren, in der ein junger Mann (Hans Heinrich von Twardowski) von einem Jahrmarkt-Schausteller (Werner Krauss) berichtet, dessen somnambules Geschöpf (Conrad Veidt) die Geliebte (Lil Dagover) des Erzählers entfĂĽhrt, worauf hin dieser die Spur bis in eine Irrenanstalt verfolgt und dort eine schreckliche Erkenntnis machen muĂź.
“Das Cabinet des Dr. Caligari” bietet mit seiner verblĂĽffenden “Mindfuck”-Anlage, den schiefen und engen Kulissen und dem expressiv ĂĽberhöhten Spiel der Hauptdarsteller einen faszinierenden Ausflug in eine (innere?) Welt, die dem Zuschauer damals wie heute fremd und unheimlich anmutet. Der Film wurde 2014 restauriert und erstrahlt nun in einer beeindruckenden Brillianz, die auf den seitdem verfĂĽgbaren Blu-ray- und DVD-Ausgaben vorzĂĽglich zum Ausdruck kommt. Wohl aus vertraglichen GrĂĽnden beinhalten diese nur eine – gleichwohl sehr gute – Musikspur, doch wer alternative Klänge zu den ohnehin ausdrucksstarken Bildern hören möchte, kann sich dieser Tage in den groĂźen Städten nach einer KinoauffĂĽhrung mit Livemusik umschauen, wie sie etwa in Bremen oder Berlin stattfinden. Zur anschlieĂźenden und abrundenden LektĂĽre des Filmerlebnisses seien zwei OFDb-Kritiken empfohlen, wahlweise ausfĂĽhrlich von PierrotLeFou oder kurz und knapp von Leimbacher-Mario.
ratz
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