KĂĽrzlich war um die Filmemacherin Elke Lehrenkrauss und ihren dokumentarischen (?) “Lovemobil” ĂĽber Prostitution an niedersächsischen LandstraĂźen in dafĂĽr eingerichteten Wohnmobilen eine einigermaĂźen hitzige Diskussion entbrannt, ob der – ungekennzeichnet von Schauspieler(inne)n nachgespielte – Film ĂĽberhaupt als Dokumentarfilm eingestuft werden könne; war das nicht eher Spielfilm oder zumindest doch scripted reality? Gar mockumentary? Den bereits verliehenen Deutschen Dokumentarfilmpreis jedenfalls hatte Ehrenkrauss dann wieder zurĂĽckgegeben… Was das fĂĽr das Image bedeutet, sei dahingestellt; Häme gab es hier und dort jedenfalls reichlich. Ehrenkrauss verwies jedenfalls auf Herzog-Dokus. Und Werner Herzog erklärte bald darauf auf Anfrage, dass er ja seine Arbeitsweise stets offengelegt habe…
Schaut man ein halbes Jahrhundert zurĂĽck, so stand Werner Herzog – damals einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films, dessen individueller ästhetischer Sonderweg jedoch in Frankreich oder den USA mehr gefragt war als hierzulande – noch selbst in der Kritik: Dem am 8. Oktober 1971 uraufgefĂĽhrten “Land des Schweigens und der Dunkelheit” wurde seinerzeit durchaus vorgeworfen, dass so manche Passagen der Interviewpartnerin auf Herzogs eigene Feder zurĂĽckgehen. “Land des Schweigens und der Dunkelheit” handelt – quasi als Ergänzung zu Herzogs direkt zuvor entstandenem TV-Film “Behinderte Zukunft” (1971) und als Vorstufe zu seinem Verwahrlosungs- und Vereinzelungsdrama, dem Kaspar-Hauser-Biopic “Jeder gegen sich und Gott gegen alle” (1974) – von den Taubblinden, denen er sich ausgerechnet ĂĽber das ausschlieĂźlich hör- und sichtbare Medium Film widmet. Der Film porträtriert auf bestĂĽrzende Weise taubblind geborene oder gewordene Personen, die von einem ĂĽberforderten Umfeld sich selbst weitgehend ĂĽberlassen bleiben, die – so legt es der Kommentar nahe – dem Tierreich sehr viel näher stehen als der Welt ihrer Mitmenschen. Solche Kommentare – und solche Bilder – mögen heute despektierlich erscheinen und kaum noch möglich sein, aber das zutiefst humanistische Anliegen ist kaum zu ĂĽbersehen. Im Zentrum steht Fini Straubinger, die – dank ebenfalls porträtierter Schulungen Gerhör- und Gesichtssinnloser – ihren Leidens- und Lebensweg detailliert zu schildern in der Lage ist; und eben auch schildert…: teils ĂĽber im Vorfeld ersonnene Zeilen Herzogs, der Staubinger die gänzlich fiktiven Erinnerungen an die Ekstase in Gesichtern von Skispringern während des Sprungs schildern lässt. (Damit greift Herzog nebenbei ein Thema auf, das später zentral in “Die groĂźe Ekstase des Bildschnitzers Steiner” (1974) wiederkehren wird.) Solche Erfindungen sollen zwar Staubingers Zustimmung gefunden haben und wurden von Herzog in Interviews auch freimĂĽtig angesprochen und begrĂĽndet – aber das Publikum, das den Film auĂźerhalb eines solchen Debattenkontextes sieht, wird weder in einem Vor- noch in einem Abspann ĂĽber diese Erfindungen informiert: Erfindungen, die Herzog im Dienst einer Darstellung “ekstatischer Wahrheit” am Werk sah. Das ist weder klar dokumentarisch noch klar nicht-dokumentarisch. (Und man kann sich zudem fragen: Ist die vom Regisseur vorgeschlagene und von der Porträtierten gutgeheiĂźene LĂĽge unwahrer als eine von ihr selbst ersonnene LĂĽge? Und wäre eine filmisch festgehaltene selbst ersonnene LĂĽge weniger dokumentarisch als ein filmisch festgehaltener Faktenbericht?) Es ist vielmehr ein Grenzfall, der dafĂĽr sensibilisiert, dass das Dokumentarische grundsätzlich nie ohne einen subjektiven Faktor auskommt. Und dass man im Grunde immer gut beraten ist, die Produktionsbedingungen und Entstehungsumstände – nicht nur, aber vor allem – dokumentarischer Filme mitzudenken.
Der andere groĂźe Herzog-Film des Jahres war der am 17. Mai 1971 uraufgefĂĽhrte “Fata Morgana”, den Herzog von November 1968 bis Dezember 1969 in Kenia, Tansania, Obervolta, Niger, Mali, auf Lanzarote oder der ElfenbeinkĂĽste drehte (um ihn im Sommer 1970 fertigzustellen). Dort dokumentierte Herzog die unterschiedlichsten EindrĂĽcke, die er irritierend miteinander montierte, unterlegt von Mozart, Leonhard Cohen, Blind Faith, den Rezitationen Lotte Eisners aus dem Popol Vuh oder diversen Kommentaren, nach denen “Menschen trotz sengender Sonne Schatten werfen”. Hier und da ist eine Zivilisationskritik unĂĽbersehbar, aber das groĂźe Ganze wird von keinem erkennbaren sinnvollen Zusammenhalt gefĂĽllt, der Sinn ist teils in einzelnen, wortlosen Einstellungen noch rätselhaft, die Logik wird gar in Kommentaren untergraben. Das groĂźe Ganze ist hier – wie noch so häufig bei Herzog – die Größe und Weite der Landschaft, die Dauer der Einstellungen, aber auch das Nebeneinander der unterschiedlichen Orte: es ist die schiere räumliche wie zeitliche Ăśbergröße, es ist das Erhabene, das noch im verbalen Unsinn wĂĽtet, der Undenkbares evoziert. Herzog hat einen dokumentarisch wirkenden Film gedreht, den er letztlich ĂĽberdeutlich seinem eigenen, mystisch getönten Weltverständnis unterordnet: “Fata Morgana” ist ein hochgradig essayistischer Film, der Objektives und Subjektives, Dokumentarisches und Fiktives verschwimmen lässt… und der in der Erschaffung seiner irritierenden (Anti-)Ordnung wie das (mystische) GegenstĂĽck zu einem (eher erkenntnistheoretischen) Klassiker des Neuen Deutschen Films wirkt: zu Ferdinand Khittls betont zwanghaften Ordnungsstiftungsversuch “Die ParallelstraĂźe” (1962), in dem wild zusammengewĂĽrfelte EindrĂĽcke aus aller Welt noch mit einigen Intellektuellen konfrontiert werden, die einen Zusammenhang herzustellen trachten.
Beide Herzog-Klassiker sind auf der Werner Herzog Collection vom BFI auf Blu-ray oder DVD (Fassungseintragvon TakaTukaLand) erhältlich.
PierrotLeFou
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