Schon frĂĽh in der Geschichte des Kinos bewegte sich die Kamera. Oder vielmehr: sie bewegte sich nicht und bewegte sich doch. Dies geschah in Form von phantom rides und Panoramen bzw. travelling shots: die Kamera steht im ersten Fall (wie im 1903 erneut gedrehten “The Haverstraw Tunnel” (1897)) fest verankert auf einem fahrenden Zug und blickt meist direkt nach vorne, seltener auch nach hinten auf die sich nähernde bzw. entfernende Landschaft; im anderen Fall befindet sich die Kamera unbeweglich auf einem Boot, einem Zug oder etwa dem Aufzug des Eifelturms und filmt seitlich zur vollzogenen Bewegung – oder selten wie im Fall aufsteigender HeiĂźluftballons nach unten – die vorbeiziehende Landschaft. Die GebrĂĽder Lumière haben etliche dieser Panoramen produziert, meist angefertigt von Alexandre Promio, der ab 1896 fĂĽr sie tätig war und späterhin weitere Kameramänner anlernte. Schon mit “Panorama du grand Canal pris d’un bateau” (1896) drehte er den mutmaĂźlich ersten Film mit bewegter Kamera – wenn man denn von den bullet time-Aufnahmen Eadweard Muybridges absieht, die aber eben mit mehreren Kamera bewerktstelligt worden sind und meist erst nachträglich via Zoopraxiskop oder anderer Techniken in Bewegtbilder ĂĽberfĂĽhrt worden sind –, aber noch eine Spur kunstfertiger waren spätere Panoramen Promios: etwa “Panorama du casino pris d’un bateau”, wo von einem Schiffsdeck aus zunächst auf ein Casino geblickt wird, das an der KĂĽste von Nizza auf Pfählen ĂĽber dem Wasser liegt, wobei man zwischen den Pfählen hindurch oberhalb des Wassers und unterhalb des Casinos auf das Ufer im Hintergrund blicken kann, derweil die Kamera zur Seite gleitet, im Wellenspiel leicht auf und ab wogend, was die Bilddynamik insbesonders fĂĽr das Erscheinungsjahr erheblich erhöht. Bald ist das Gebäude auĂźer Sichtweite, kleinere Boote fahren im Vordergrund vorbei, derweil die Kamera auf dem Boot allmählich eine leichte Drehbewegung vollzieht, bis die leicht seitlicht eingefangenen Häuserreihen im Hintergrund schlieĂźlich nahezu in frontaler Ansicht zu sehen sind und der Film beinahe schon mit einer achsensymmetrischen Bildkomposition endet.
In “Constantinople, panorama des rives du Bosphore” blickt die Kamera am Bosporus vom Boot aus auf einen Hafen, wobei hintereinanderliegende Schiffe, Mauern und Häuserblöcke in der Ferne in Verbindung mit der Seitwärtsbewegung ein ausgesproch gestaffeltes Bild ergeben, dessen unterschiedlich schnell vorbeiziehenden Tiefenschichten ein GespĂĽr fĂĽr den Raum ermöglichen; dabei vergrößert sich die Distanz der Kamera zu den Booten, Mauern und Häusern ganz allmählich, gibt der Wasseroberfläche in der Mise-en-image zunehmend mehr Platz im unteren Drittel, was den Gesamteindruck ĂĽbersichtlicher und heller geraten lässt. FĂĽr Nicht-Cineasten mag das hochgradig unspannend sein; aber so lebendig wie in den frĂĽhen travelling shots lassen sich die Landschaften des ausklingenden 19. Jahrhunderts nirgends wahrnehmen.
PierrotLeFou
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