Vor 50 Jahren: Jancsó setzt Politik und Religion ins Spannungsfeld 9. März 2022 | Stichwörter: 1970er, Drama, Hernádi, Historienfilm, Jancsó, Jubiläum, Klassiker, long take, Musikfilm, Spielfilm, Ungarn Még kér a nép (1972) Der Eiserne Vorhang war während der 1970er und 80er Jahre nicht überall gleich undurchlässig, der Einfluß des “Großen Bruders” UdSSR war nicht überall gleich stark. Etwa in der Tschechoslowakei oder in Ungarn hatten Künstler größere Freiheiten als z.B. in der DDR, und so konnte der Regisseur Miklós Jancsó am 9. März 1972 seinen vieldeutigen, ja provokanten Film “Még kér a nép” in die ungarischen Kinos und bringen und später auf internationalen Festivals vorstellen, während er in etlichen Ostblockstaaten nicht laufen durfte. Der Filmtitel “Még kér a nép” bedeutet eigentlich “Das Volk fragt immer noch”, nach einer Zeile des Dichters Sándor Petöfi, jedoch zeigt der englische Titel “Red Psalm” (deutsch “Roter Psalm”) schon eine ungewöhnliche thematische Verbindung von Kommunismus und Religion, die natürlich einen sowjetischen Kulturfunktionär brüskieren mußte. Jancsós eigenwilliger, seit Jahren perfektionierter Filmstil sah sich seit jeher Formalismus- bzw. Manierismusvorwürfen ausgesetzt: in einem abstrakten, theaterhaften Setting unter freiem Himmel, das oft spezifische Ereignisse der ungarischen Geschichte verortet, bewegen sich symbolisch aufgeladene Einzelfiguren und Gruppen in komplexen Choreographien um die Kamera, die selbst ständig in fließender Bewegung ist und in minutenlangen Takes das parabelhafte Geschehen aufnimmt. ”Még kér a nép” verhandelt wie schon Jancsós Vorgängerfilme “Fényes szelek” (1969, Anniversary-Text) oder “Égi bárány” (1971) die Machtverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen in Konfliktsituationen – hier ist es ein ungarischer Bauernaufstand im Jahre 1898, der schließlich vom Militär niedergeschlagen wird. Wie in einem Versuchsaufbau sind Vertreter aller Klassen auf einer sonnigen Puszta-Wiese anwesend, hier nun verschränkt Jancsó die Symbolik revolutionärer Aufständischer (es gibt viele Bezüge zur Französischen Revolution) mit bekannten christlich-katholischen Symbolen wie der Taube als Heiliger Geist bzw. Friedenssymbol, der Trinität, den Wundmalen Jesu und verschiedenen Ritualen (Taufe, Gebete usw.). Das ergibt reizvolle, vielfältig interpretierbare Spannungen, die Jancsó und sein Drehbuchautor Gyula Hernádi unaufgelöst lassen, die Notwendigkeit und Richtigkeit der revolutionären Volkserhebung stellen sie allerdings nie in Frage. Miklós Jancsós Filme fordern stets den (nicht-ungarischen) Zuschauer heraus, aktiv an der Verfolgung und Interpretation der manchmal opaken Vorgänge in seinen Filmen teilzunehmen, historisches Hintergrundwissen ist dabei nicht Voraussetzung, hilft aber natürlich. Daher bietet der kenntnisreiche Booklettext der beim britischen Label Second Run erschienenen DVD-Ausgabe von ”Még kér a nép” (Fassungseintrag) wertvolle Hintergründe und Deutungsansätze. Knapp, aber euphorisch fällt die OFDb-Kritik von ManCity aus. ratz
Még kér a nép (1972)
Der Eiserne Vorhang war während der 1970er und 80er Jahre nicht überall gleich undurchlässig, der Einfluß des “Großen Bruders” UdSSR war nicht überall gleich stark. Etwa in der Tschechoslowakei oder in Ungarn hatten Künstler größere Freiheiten als z.B. in der DDR, und so konnte der Regisseur Miklós Jancsó am 9. März 1972 seinen vieldeutigen, ja provokanten Film “Még kér a nép” in die ungarischen Kinos und bringen und später auf internationalen Festivals vorstellen, während er in etlichen Ostblockstaaten nicht laufen durfte.
Der Filmtitel “Még kér a nép” bedeutet eigentlich “Das Volk fragt immer noch”, nach einer Zeile des Dichters Sándor Petöfi, jedoch zeigt der englische Titel “Red Psalm” (deutsch “Roter Psalm”) schon eine ungewöhnliche thematische Verbindung von Kommunismus und Religion, die natürlich einen sowjetischen Kulturfunktionär brüskieren mußte. Jancsós eigenwilliger, seit Jahren perfektionierter Filmstil sah sich seit jeher Formalismus- bzw. Manierismusvorwürfen ausgesetzt: in einem abstrakten, theaterhaften Setting unter freiem Himmel, das oft spezifische Ereignisse der ungarischen Geschichte verortet, bewegen sich symbolisch aufgeladene Einzelfiguren und Gruppen in komplexen Choreographien um die Kamera, die selbst ständig in fließender Bewegung ist und in minutenlangen Takes das parabelhafte Geschehen aufnimmt. ”Még kér a nép” verhandelt wie schon Jancsós Vorgängerfilme “Fényes szelek” (1969, Anniversary-Text) oder “Égi bárány” (1971) die Machtverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen in Konfliktsituationen – hier ist es ein ungarischer Bauernaufstand im Jahre 1898, der schließlich vom Militär niedergeschlagen wird. Wie in einem Versuchsaufbau sind Vertreter aller Klassen auf einer sonnigen Puszta-Wiese anwesend, hier nun verschränkt Jancsó die Symbolik revolutionärer Aufständischer (es gibt viele Bezüge zur Französischen Revolution) mit bekannten christlich-katholischen Symbolen wie der Taube als Heiliger Geist bzw. Friedenssymbol, der Trinität, den Wundmalen Jesu und verschiedenen Ritualen (Taufe, Gebete usw.). Das ergibt reizvolle, vielfältig interpretierbare Spannungen, die Jancsó und sein Drehbuchautor Gyula Hernádi unaufgelöst lassen, die Notwendigkeit und Richtigkeit der revolutionären Volkserhebung stellen sie allerdings nie in Frage.
Miklós Jancsós Filme fordern stets den (nicht-ungarischen) Zuschauer heraus, aktiv an der Verfolgung und Interpretation der manchmal opaken Vorgänge in seinen Filmen teilzunehmen, historisches Hintergrundwissen ist dabei nicht Voraussetzung, hilft aber natürlich. Daher bietet der kenntnisreiche Booklettext der beim britischen Label Second Run erschienenen DVD-Ausgabe von ”Még kér a nép” (Fassungseintrag) wertvolle Hintergründe und Deutungsansätze. Knapp, aber euphorisch fällt die OFDb-Kritik von ManCity aus.
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