“Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens” erlebt gerade sein 100jähriges Jubiläum: Bereits am 16. Februar 1922 erfolgte offenbar seine UrauffĂĽhrung in den Niederlanden, am 4. März 1922 feierte er seine deutsche Premiere in Berlin. Die Strahlkraft dieses Titels ist enorm; ins Hintertreffen geraten da die anderen Murnaus, die 1922 herauskamen – teils sogar in enger zeitlicher Nähe: der am 20. Januar 1922 uraufgefĂĽhrte und nur noch als Fragment erhaltene “Marizza, genannt die Schmuggler-Madonna”, “Der brennende Acker”, der am Vortag der deutschen Premiere von “Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens”, am 3. März 1922, in Hamburg seine UrauffĂĽhrung erlebte und jahrzehntelang als verschollen galt, sowie der am 13. November 1922 uraufgefĂĽhrte “Phantom”, der auch dank seiner VerfĂĽgbarkeit und des prominenten Autorengespanns (Gerhart Hauptmann, Thea von Harbou, Hans Heinrich von Twardowski) heute der bekannteste dieser drei Titel sein dĂĽrfte… BerĂĽhmt ist dieser letzte Titel auch fĂĽr seine subjektiven Wahnbilder, die immerhin einen der expressionistischen Höhepunkte des deutschen Stummfilms hervorgebracht haben.
Man könnte viel ĂĽber Formen und Inhalte dieser Filme erzählen, um die individuellen Qualitäten dieser Werke herauszuarbeiten. Hier soll stattdessen eine Gemeinsamkeit vorgestellt werden, die die Filme – auch mit “Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens” und vielen weiteren Murnaus – eint… Man kann das bereits erahnen, wenn man einen Blick auf die hier auf der OFDb hinterlegten Filmplakat-Motive der drei Filme blickt: die Schmuggler-Madonna, etwas trĂĽgerisch fromm dreinschauend, mit leicht gesenktem Kopf, nach oben blickend; Schultern und Brustansatz reizvoll zur Schau stellend, mit der Hand am Busen aber doch das kleine Kreuz der Halskette fassend… die reizende Dame, die selbstbewusst wirkt, aber doch leicht zum Mann emporsieht; ihre Handfläche geöffnet präsentierend… die junge Frau, die eine Maske neben ihren Kopf hält, der somit austauschbar gegen diesen zweiten Frauenkopf erscheint (der sich als Zeichnung auf dem Plakat kaum vom ja ebenfalls gezeichneten Kopf der Frau unterscheidet). Nicht bloĂź Murnaus “Der Januskopf – Eine Tragödie am Rande der Wirklichkeit” (1920) verfĂĽgte ĂĽber zwei Gesichter einer Person. Es ist vor allem auch das Weibliche, das bei Murnau zwei Gesichter zur Schau trägt: Begehrenswert und heilig, charakterstark und aufopferunsbereit etwa zeigt sich Greta Schröder als Ellen Hutter in “Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens”, wo sie als Mina-Harker-Figur – anders als in Bram Stokers Vorlage – ihr Leben hingibt, um den Vampyr zum Tode zu verfĂĽhren. In “Sunrise: A Song of Two Humans” (1927) werden es zwei Frauen sein: die aufreizende VerfĂĽhrerin aus der groĂźen Stadt – und die verzeihende, wahrhaft liebende graue Maus vom Land. Verzeihen wird auch die Frau aus “City Girl” (1930), die hier von Vater und Bruder der männlichen Hauptfigur ungerecht behandelt wird: Vor der Reinheit der Frau zeichnet sich die Unausgewogenheit der Männer ab. In “Der brennende Acker” und in “Phantom” gibt es drei Frauen, in “Marizza, genannt die Schmuggler-Madonna” bloĂź eine; ein Muster ist aber auch hier jeweils anzutreffen…
In “Der brennende Acker”, der 1978 wiedergefunden und später mit der UnterstĂĽtzung Eric Rohmers restauriert wurde, wird ein Bauernsohn mit groĂźen Plänen Sekretär bei einem Grafen, liebäugelt erst mit dessen Tochter (Lya De Putti), späterhin mit dessen zweiter Ehefrau, die er ehelicht, sobald diese Witwe ist. Dass es dazu bloĂź deshalb kam, weil er ĂĽber sie an eine Petroleumquelle unter dem sogenannten Teufelsacker kommen wollte, wird den Freitod der Frau herbeifĂĽhren… des Grafen Tochter offenbart der Mann späterhin, dass er auch sie nur aus Aufstiegsabsichten ins Auge gefasst hatte. “Ich will mich rächen – und bĂĽĂźen zugleich!”, beteuerte diese daraufhin in einem Brief, um die Petroleumquelle in Brand zu setzen und dabei umzukommen. Schuldbewusst und bekĂĽmmert kehrt der verlorene Sohn wieder Heim – und wird warmherzig aufgenommen von der Dienstmagd des Bauernhofes, die ihn immer schon vollkommen geliebt habe. In ihrer GĂĽte und ihrer aufopferungsvollen Pflege ihrer kaum erfolgversprechenden Liebe stecken eine moralische Größe, ein tiefes Verständnis und eine Leidensbereitschaft, die alle Verfehlungen des reuigen Mannes zu verzeihen imstande sind. Er darf nun doch Gnade, Verzeihung, Trost und GlĂĽck finden; an der Seite einer liebenden, ehrlich arbeitenden Frau, nachdem er zwei andere, wohlhabende Frauen – teils stolz, zumindest aber un-uneigennĂĽtzig genug, um die Schmähungen unverletzt zu ĂĽberstehen – ins UnglĂĽck gestĂĽrzt hat. Finden lässt sich “Der brennende Acker” mitunter als Aufzeichnung der 1996er-arte-Ausstrahlung (Fassungseintrag von blacklion), derweil eine hochwertige DVD-/Blu-ray-Version des auch mit Werner Krauss, Eugen Klöpfer, Alfred Abel und Georg John namhaft besetzten Klassikers noch aussteht…
Eine Variation stellt “Phantom” nach Gerhard Hauptmann, der hier auch kurz vor die Kamera tritt, dar: ein junger Mann aus eher ärmlichen Verhältnissen, der Dichter sein will, verguckt sich in die schöne Tochter eines reichen Händlers (Lya De Putti), tröstet sich ĂĽber ihre ZurĂĽckweisung mit der ähnlich aussehenden Mellitta (Lya De Putti) hinweg, an die er das Geld seiner Tante, einer Pfandleiherin, verschwendet, bis er diese – von einem Gauner angestiftet – zu berauben plant und ungewollt ihr Ableben in die Wege leitet. Auch hier plant ein Mann aus unscheinbaren Verhältnissen, ĂĽber das Vermögen einer betrogenen Frau seine Ziele zu verwirklichen; das Ziel ist hier indes wiederum eine Frau (wenn auch als Stellvertreterin einer anderen, unerreichbareren Frau), die der femme fatale gleicht, wie sie in “Sunrise” aufkreuzen wird. Und auch hier darf der reuige Mann nach seiner Strafe Erlösung finden: Lil Dagover gesteht als Tochter eines Buchbindermeisters, die ausgerechnet den Namen Marie trägt, ihre Liebe und bietet dem schuldbehafteten Gequälten, der einem Phantom nachgejagt ist, wahren Halt. Mit der Blu-ray der Early Murnau-Box von Eureka kann man sich von den Qualitäten dieses Murnau-Klassikers ĂĽberzeugen, in dem unter anderem noch Alfred Abel, Aud Egede-Nissen, Hans Heinrich von Twardowski und Grete Berger auftreten: Fassungseintrag von ratz “Marizza, genannt die Schmuggler-Madonna” soll auch unter dem Titel “Das schöne Tier” bekannt gewesen sein: Das Schöne und das Tierische fällt zusammen in der Titelheldin Marizza, die eine Carmen-Figur ist; “[e]in halbes Weibsteufelmotiv (von der andern Seite gesehen), in Pyrenäenberge versetzt” (Berliner Börsen-Courier, Nr. 37) oder “ein heiĂźes Zigeunermädchen und als solches von Backfischbewegungen frei, später eine heimatlose Mutter” in “fĂĽnfaktige[r] Balkantragödie” (Der Film, Nr. 5). Tzwetta Tzatschewa ist diese Marizza, die Grenzsoldaten dazu bringen soll, ihre Arbeit zu vernachlässigen; die einen von ihnen mordet; die die Zukunft ihres Liebhabers (Hans Heinrich von Twardowski) ruiniert, der fĂĽr diesen Mord geradestehen will; und die zugleich aber auch von ihrem frĂĽheren Geliebten sitzengelassen wurde, der auf Weisung seiner Mutter eine bessere Partie (Greta Schröder) geehelicht hat, um eine rosigere Zukunft vor sich zu haben… Dieser soll dann aber am Ende doch noch als Retter in den Not wieder aufgetaucht sein, um an Marizzas Seite eine Zukunft zu haben… Hier kreuzen sich viele Muster aus anderen Murnaus: die verhängnisvolle femme fatale, die Marizza ebenso ist wie eine Liebende, die vom Geliebten fĂĽr eine vorteilhaftere Partnerin aufgegeben wird; sie manipuliert und nutzt aus, wird aber auch ihrerseits ausgenutzt… Da bloĂź noch ein knapp 13minĂĽtiges Fragment erhalten geblieben ist, das Tzwetta Tzatschewas Leistung und die Kameraarbeit Karl Freunds (der auch groĂźe Teile von “Der brennende Acker” betreute) bewundern lässt, ist eine Deutung der Handlung und Charakterzeichnung jedoch nur unter Vorbehalt möglich. Die Sichtung des Fragments lohnt sich dennoch und lässt ahnen, wie bedauerlich das Fehlen einer (nahezu) vollständigen Version doch ist…
PierrotLeFou
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