Während um das neutrale Schweden der Zweite Weltkrieg tobte, kam dort am 2. Oktober 1944 das Schuldrama „Hets“ in die Kinos, für das der gerade 26 Jahre alte Ingmar Bergman das Drehbuch (sein erstes!) geschrieben hatte. Regie führte der erfahrene Theater- und Filmregisseur Alf Sjöberg, der den Regieassistenten Bergman an der Königlichen Oper in Stockholm kennen- und schätzengelernt hatte. Als nun Sjöberg wegen anderer Verpflichtungen keine Zeit mehr hatte, die letzten Außenaufnahmen für „Hets“ zu besorgen, durfte Bergman übernehmen und drehte die ersten Filmmeter seines Lebens im beruflichen Rahmen – wie sich seine Karriere entwickelte, ist hinlänglich bekannt.
Der irreführende deutsche Verleihtitel „Die Hörige“ geht an der Sache vorbei, denn nicht die weibliche Hauptdarstellerin steht im Zentrum von Bergmans Drehbuch, sondern die Dreiecksbeziehung zwischen einem Schüler, einem Lehrer und einem proletarischen Mädchen. „Hets“ bedeutet eigentlich „Die Hetze“, und viele der Themen oder Charaktere, die man aus späteren Bergman-Filmen kennt, lassen sich hier bereits ausmachen. In der als repressiv und einengend gezeichneten Oberschule haben die heranwachsenden jungen Männer aus gutem Hause keinen Freiraum, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Erste sexuelle Erfahrungen machen sie nicht etwa innerhalb der eigenen sozialen Sphäre, sondern mit Prostituierten oder „leichten Mädchen“ aus der arbeitenden Klasse. So geht es auch dem Schüler Jan-Erik (Alf Kjellin), dessen Beziehung zur Tabakverkäuferin Bertha (Mai Zetterling) schon aus Gründen des Klassenunterschieds keine Zukunft hat. Doch Jan-Erik leidet vor allem unter seinem sadistischen Lateinlehrer (Stig Järrel), von den Schülern treffend Caligula genannt, der auch Bertha mit seinen Besuchen quält. Die finstere Figur des Caligula ist von der Filmkritik oft als Allegorie für Nazideutschland gesehen worden, aber mit einigem historischen Abstand gesehen, greift der Vergleich zu kurz. Bergman interessiert in „Hets“ vielmehr das die gesamte Gesellschaft durchdringende System der paternalistischen Repression, die sich in der Autorität von Vätern, Lehrern, Polizisten usw. widerspiegelt (das Extrembeispiel des bösen und kranken Lateinlehrers findet in gutmütigen Lehrern und einem väterlichen Schulrektor durchaus Gegenfiguren). Sjöberg übersetzt die Verhältnisse vor allem in seiner Inszenierung von Innenräumen: vor der kalten Sachlichkeit des Schulgebäudes und der überdekorierten Gutbürgerlichkeit des Elternhauses findet Jan-Erik nur in der bescheidenen Wohnung von Bertha Zuflucht. Diese wiederum wird zum Ort der Bedrohung, sobald Caligula auftaucht – Sjöberg greift dafür auf die Licht-Schatten-Setzung des expressionistischen Stummfilms zurück und schafft starke Bilder, die auch einem Horrorfilm gut stehen würden.
Es mögen die vielen Elemente und Motive in Bergmans Drehbuch nicht restlos organisch zusammenspielen, doch nach Kriegsende war „Hets“ 1946 der Große Preis des Filmfestivals in Cannes beschieden, und nur wenige Wochen später debütierte Bergman als Filmregisseur. Bei uns hat das Label Arthaus den schwedischen Klassiker sowohl als Einzel-DVD (Fassungseintrag) als auch in einer Box mit weiteren frühen Bergman-Filmen (Fassungseintrag) veröffentlicht, allerdings ohne deutsche Synchronisation.
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