Nachdem Alfred Hitchcock in “Ich kämpfe um dich” seine ganz eigene und reichlich abstruse, aber dennoch packende Version eines Psychoanalyse-Thrillers auf die Leinwand brachte, fand er ein weiteres Sujet, das ihn reizte: Ein Mann zwingt eine Frau, sich einem anderen Mann an den Hals zu werfen, obwohl er sie selbst liebt. Das tut er nicht aus masochistischen Beweggründen, sondern aus Pflichtbewusstsein für sein Land, weil Devlin (Cary Grant) Agent ist und Alicia (Ingrid Bergman) die Tochter eines Nazis, der vor seinem Selbstmord Kontakte zu einer in Brasilien untergetauchten Nazi-Organisation pflegte. Weil sie selbst die Machenschaften ihres Vaters zutiefst verabscheute, willigt sie schließlich ein, sich an ihren alten Bekannten Sebastian (Claude Rains) heranzumachen. Dieser ist Teil besagten Nazi-Rings und könnte über wertvolle Informationen für die US-Regierung zu weiteren Plänen der Organisation verfügen. Es wird Alicias Aufgabe sein, heimlich die notwendigen Informationen zu erlangen.
“Berüchtigt” – uraufgeführt am 15. August 1946 – war sowohl für Cary Grant (nach “Verdacht”) als auch für Ingrid Bergman (nach “Ich kämpfe um dich”) die zweite Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock, dem mit diesem Film vielleicht sein erstes Meisterwerk gelungen ist. Besonders interessant dabei ist, dass er sich nur am Rande mit dem politischen Aspekt der Geschichte beschäftigt und die bereits angesprochene Dreiecksbeziehung in den Mittelpunkt rückt. So wird eine enorme Nähe zu den zentralen Hauptfiguren hergestellt – und damit ist explizit auch Sebastian gemeint, der entgegen der auch noch in den folgenden Jahrzehnten gängigen Praxis hinsichtlich Nazi-Charakteren nicht als eindimensionaler Antagonist gezeichnet ist, sondern zutiefst menschlich. Seine aufrichtige Liebe zu Alicia und seine lange damit einhergehende Unfähigkeit, die Zeichen zu erkennen, wird ihn in höchste Schwierigkeiten bringen. Dahingegen verkörpert Cary Grant wie schon in “Verdacht” nicht den Strahlemann: Devlins eifersüchtiges Verhalten lässt ihn in zunehmendem Maße ungerecht und kaltherzig erscheinen gegenüber der geliebten Frau, als er merkt, dass sie bereit ist weiterzugehen, als er gedacht hätte. Zwischen den Fronten steht Alicia, die eigentliche Devlin liebt und unter seinen Sticheleien leidet, während sie sich selbst fortwährend der Gefahr der Entdeckung ihrer wahren Rolle ausgesetzt sieht.
Viele Szenen und Momente haben dabei Geschichte geschrieben: der bis dato längste Kuss der Filmgeschichte, bei dem Cary Grant und Ingrid Bergman fast drei Minuten Lippe an Lippe aneinanderkleben und den Kuss ständig für ein paar Dialogzeilen unterbrechen, weil Küsse laut Hays-Code seinerzeit nicht länger als drei Sekunden gehen durften; eine lange Kamerafahrt von der Totalen bis in die extreme Nahaufnahme einer Hand (damit zitiert er sich und eine Kamerafahrt in seinem “Jung und unschuldig” selbst); ein schmerzhafter Dialog, in dem Alicia und Devlin tragisch aneinander vorbeireden; die mit Uranerz gefüllte Weinflasche; Alicias Schwindelgefühl bis hin zum Zusammenbruch aus der Ego-Perspektive; und nicht zuletzt das Finale rund um die Treppe des hauptsächlichen Schauplatzes (Sebastians Haus), wo alle wesentlichen Figuren des Films noch einmal aufeinandertreffen und sich entscheiden wird, wer mit dem Leben davonkommt. Dies alles macht am Ende einen gefühlt immer etwas unter dem Radar laufenden Hitchcock-Klassiker aus, der eindeutig zu seinen besten Werken zählt.
Die ursprüngliche deutsche Synchronfassung machte – 1951 kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – aus den Nazis internationale Rauschgifthändler mit abgewandelten Rollennamen. Erst 1969 wurde “Berüchtigt” neu und mit dem von Hitchcock intendierten Inhalt synchronisiert. Qualitativ ist trotzdem die erste Version zu bevorzugen.
Erhältlich ist der Film auf Blu-ray als schöne Alfred Hitchcock Classic Collection bei MGM: Fassungseintrag von ratz
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