Interview Hitchcock/Truffaut von Stefan M eingetragen am 25.08.2002
Truffaut: Ich weiß, “Shadow of a Doubt” ist unter Ihren Filmen derjenige, den Sie am meisten mögen. Aber wenn durch irgendein Unglück alle Ihre anderen Filme verloren gingen, dann würde “Shadow of a Doubt”, glaube ich, doch keine genauen Eindruck vom “Hitchcock-Touch” vermitteln. Ein getreueres Bild von Ihrem Stil würde “Notorious” [“Berüchtigt”] geben.
Hitchcock: Ich sollte nicht sagen, daß “Shadow of a Doubt” mein Lieblingsfilm ist. Wenn ich mich ein paarmal in diesem Sinn geäußert habe, dann, weil dieser Film auch unsere Freunde, die Wahrscheinlichkeitskrämer, und unsere Freunde, die Logiker, zufriedenstellt.
Truffaut: Und unsere Freunde, die Psychologen.
Hitchcock: Ja, unsere Freunde, die Psychologen. Das ist also eine Schwäche meinerseits, denn auf der einen Seite gebe ich vor, mich nicht um Glaubwürdigkeit zu kümmern, und auf der anderen bemühe ich mich um sie. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Aber vermutlich ist der zweite Grund die Erinnerung an die besonders angenehme Zusammenarbeit mit Thornton Wilder. In England hatte ich immer mit den besten Stars und den besten Autoren zusammengearbeitet. In Amerika war das nicht der Fall gewesen, und ich hatte Körbe einstecken müssen von Stars und Autoren, die die Arbeit verachteten, die mich interessiert. Deshalb war es sehr angenehm und befriedigend für mich, daß einer der besten amerikanischen Schriftsteller plötzlich bereit war, mit mir zu arbeiten und diese Arbeit ernstnahm.
Truffaut: Hatten Sie sich Thornton Wilder selbst ausgesucht, oder hatte jemand anders ihn vorgeschlagen?
Hitchcock: Ich war selbst auf ihn gekommen. Aber blenden wir etwas zurück. Eine Frau, Margaret MacDonnell, Leiterin der Story-Abteilung bei Selznick, sagte mir eines Tages, ihr Mann, der Schriftsteller war, habe eine Filmidee, sie aber noch nicht zu Papier gebracht. Ich habe sie zum Mittagessen zum Brown Derby von Beverly Hills eingeladen, und sie haben mir die Geschichte erzählt, die wir dann während des Essens gemeinsam ausgebaut haben. Schließlich habe ich gesagt: “Gehen Sie nach Hause und schreiben Sie das in die Maschine.” So hatten wir ein neun Seiten umfassendes Skelett einer Geschichte und haben das an Thornton Wilder geschickt. Und er ist gekommen, und wir haben in dem Studio, in dem wir jetzt sind, weitergearbeitet. Ich arbeitete mit ihm jeden Morgen, und nachmittags schrieb er allein weiter in eine kleine Schulkladde. Er arbeitete nicht gern kontinuierlich, sondern sprang immer von einer Szene zur anderen, wie es ihm gerade einfiel. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich auf Wilder gekommen war, weil er ein ausgezeichnetes und sehr bekanntes Stück geschrieben hatte, “Our Town”.
Truffaut: Ich kenne den Film, den Sam Wood nach dem Stück gedreht hat.
Hitchcock: Als das Drehbuch fertig war, ist Thornton Wilder zur psychologischen Abteilung der Armee gegangen. Das Drehbuch war noch nicht ganz in Ordnung, und ich suchte jemand, der die kurzen komischen Momente, als Gegengewicht zu den dramatischen, noch entwickeln konnte. Thornton Wilder hatte einen Autor von der MGM vorgeschlagen, Robert Audrey, der mir aber zu ernst vorkam. Und schließlich habe ich mit Sally Benson weitergearbeitet.
Mit Thornton Wilder hatten wir einen besonderen Realismus angestrebt, vor allem was die Stadt und den Dekor betraf. Wir hatten ein Haus ausgewählt, und Wilder hatte Bedenken, ob es nicht zu groß wäre für einen Bankangestellten. Wir haben Nachforschungen angestellt, und dabei stellte sich heraus, daß der Mann, der das Haus bewohnte, in genau derselben finanziellen Situation war wie die Figur in unserem Film, und Wilder war zufrieden. Als wir vor den Dreharbeiten wieder in die Stadt kamen, hatte der Mann, weil er so froh darüber war, daß sein Haus in einem Film vorkommen sollte, es frisch gestrichen. Wir waren gezwungen, alles wieder “dreckig” anzustreichen. Natürlich haben wir ihm das Haus nach den Dreharbeiten wieder frisch gestrichen.
Truffaut: Man ist überrascht, wenn man im Vorspann diese Danksagung an Thornton Wilder liest.
Hitchcock: Ich habe das getan, weil ich wirklich beeindruckt war von den menschlichen Qualitäten dieses Mannes.
Truffaut: Aber weshalb haben Sie ihn dann nicht für weitere Drehbücher engagiert?
Hitchcock: Er ging in den Krieg, und ich habe ihn erst Jahre später wiedergesehen.
Truffaut: Ich wüßte gern, wie Sie auf die Idee gekommen sind, die Melodie aus der “Lustigen Witwe” durch ein tanzendes Paar zu illustrieren. Das ist ein Bild, das in dem Film mehrfach wiederkehrt.
Hitchcock: Sie erinnern sich auch, daß ich es unter dem Vorspann verwandt habe.
Truffaut: War das eine Archivaufnahme?
Hitchcock: Nein, ich habe das selbst gedreht. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wer als erster darauf kommt, ein paar Takte aus der “Lustigen Witwe” zu pfeifen. War es Onkel Charlie oder das Mädchen?
Truffaut: Zuerst zeigen Sie das tanzende Paar und man hört orchestriert “Die Lustige Witwe”. Dann trällert die Mutter die ersten Takte, dann das Mädchen, und dann suchen alle am Tisch nach dem Titel. Joseph Cotten, leicht verwirrt, sagt: “Das ist die “Blaue Donau”.” Und die Nichte sagt: “Ja, richtig. Ach nein, es ist “Die Lustige...” Da stößt Cotten ein Glas um, um sie abzulenken.
Hitchcock: Er möchte nicht, daß man sagt: “Das ist “Die Lustige Witwe”.”, weil das der Wahrheit zu nah kommen würde. Das ist wieder eine dieser Telepathiegeschichten zwischen Onkel Charlie und dem Mädchen.
Truffaut: “Shadow of a Doubt” ist mit “Psycho” einer Ihrer wenigen Filme, in denen die Hauptfigur der Schurke ist und das Publikum zugleich sehr mit ihm sympathisiert, vermutlich weil man nie sieht, wie er die Witwen umbringt.
Hitchcock: Vermutlich. Und dann ist er ein Mörder mit einem Ideal. Er gehört zu den Mördern, die sich berufen fühlen zu zerstören. Vielleicht verdienten die Witwen ihr Schicksal, aber es stand ihm nicht zu, es zu tun. Der Film enthält ein moralisches Urteil. Zum Schluß des Filmes kommt er um, nicht? Seine Nichte bringt ihn um, wenn auch ohne Absicht. Das bedeutet, daß nicht alle Schurken schwarz sind und nicht alle Helden weiß. Überall gibt es grau. Onkel Charlie liebte seine Nichte sehr, aber nicht so sehr wie sie ihn. Aber sie mußte ihn verderben, denn erinnern wir uns, was Oscar Wilde sagt: “Man tötet, was man liebt.”
Truffaut: Ein Detail aus “Shadow of a Doubt” würde mich noch interessieren. In der ersten Bahnhofsszene, wenn der Zug einfährt, aus dem Onkel Charlie aussteigt, kommt dieser schwarze Rauch aus dem Schornstein der Lokomotive. Wenn der Zug nah herankommt, ist der ganze Bahnsteig davon voll. Ich hatte den Eindruck, daß das Absicht war, denn am Schluß des Films, in der zweiten Bahnhofsszene, wenn der Zug wegfährt, ist da nur eine ganz gewöhnliche kleine Wolke.
Hitchcock: Allerdings, für die erste Szene hatte ich viel schwarzen Rauch verlangt. Das ist eins von diesen Dingen, mit denen man sich ungeheure Mühe macht, und hinterher merkt man es kaum. Aber hier hatten wir obendrein noch Glück. Die Sonne stand so, daß ein wunderschöner Schatten über den ganzen Bahnhof fällt.
Truffaut: Dieser schwarze Rauch läßt sich so übersetzen: Jetzt zieht der Teufel in die Stadt ein.
Hitchcock: Ja sicher. Ganz ähnlich ist es in “The Birds” [“Die Vögel”], wenn Jessica Tandy in ihrem Lieferwagen wieder davonfährt, nachdem sie die Leiche des Farmers entdeckt hat. Sie hat wirklich einen Schock gekriegt, und um diese Emotion zu erhalten, habe ich Rauch aus dem Auspuff kommen und Staub von der Straße aufwirbeln lassen. Im Kontrast zu der friedlichen Szene, als sie ankam - eine etwas feuchte Straße und kein Rauch aus dem Auspuff.
Truffaut: Abgesehen von dem Kriminalbeamten ist die Besetzung von “Shadow of a Doubt” ganz ausgezeichnet, und ich vermute, daß Sie mit Joseph Cotten sehr zufrieden waren und auch mit Teresa Wright. Es ist wirklich eins der besten Mädchenporträts in einem amerikanischen Film. Sie ist sehr hübsch, mit einer guten Figur und einem graziösen Gang.
Hitchcock: Ja, wir hatten sie bei Goldwyn ausgeliehen, bei dem sie unter Vertrag war. Die ganze Ironie der Situation lag darin, daß sie in ihren Onkel verliebt war.
Truffaut: Ach ja, noch zu dieser Verliebtheit. Ganz zum Schluß des Films sieht man das Mädchen und ihren Verlobten, den Polizisten, vor der Kirche stehen. Im Ton hört man im Hintergrund den Pfarrer eine Lobrede auf Onkel Charlie halten, etwa so: “Er war ein außerordentliches Wesen...” Währenddessen schmieden das Mädchen und der Polizist Zukunftspläne, und das Mädchen sagt etwas ziemlich Zweideutiges, etwa: “Wir sind die einzigen, die die Wahrheit kennen.”
Hitchcock: Ich erinnere mich des Satzes nicht genau, aber die Idee war, daß das Mädchen ihr Leben lang in ihren Onkel Charlie verliebt bleiben würde.
Quelle: “Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?” von Francois Truffaut
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