Le Faux magistrat (1914)
Fantômas (1964)
Wer heute an Fantômas denkt, denkt vermutlich zunächst an Jean Marais & Louis de Funes, während die Filme Feuillades und die Romane von Pierre Souvestre & Marcel Allain nochmals eine Spur stärker an Popularität eingebüßt haben. Das sollte aber nicht über die enorme Wirkung hinwegtäuschen, die Feuillades Fantômas-Filmzyklus auf die (nicht nur Film-)Kunst des 20. Jahrhunderts besessen hat. Die seltsam irreal anmutenden Verkleidungskünste des verbrecherischen Genies und gewissenlosen Manipulators, die bizarren Wendungen der Handlungen, die irritierenden Anschlüsse (die man heutzutage in den allermeisten Fällen als Anschlussfehler verbuchen würde), die unwirkliche Ausstrahlung der alltäglichen Schauplätze und die boshafte Gewitztheit der Reihe Feuillades hatten großen Einfluss vor allem auf die Surrealisten, die sich der Figur - wie etwa Rene Magritte oder Max Jacob - ihrerseits annahmen; auch der Kubist Juan Gris zollte Fantômas seinen Respekt. Waren die monatlich erscheinenden Bücher erfolgreiche Verkaufsschlager, so haftete der Figur ab der Visualisierung durch Feuillade in den Jahren 1913/1914 auch der Beigeschmack hoher Kunst an: Fantomas nahm in der Avantgarde die spätere Pop Art und die Vermengung von Hoch- und Populärkultur in der Postmoderne (von Godard bis Tarantino) vorweg.
Vor allem auf dem Gebiet des Films hielt sich der Eindruck, den Feuillades Filmzyklus hervorgerufen hatte, über Jahrzehnte und wurde durch weitere Zyklen wie "Les Vampires" (1915) und "Judex" (1916) noch gestärkt. Fritz Langs Mabuse-Filme nach Norbert Jacques zeigen den Einfluss deutlich und der frühe Eisenstein variiert den Feuillade-Tonfall in "Dnevnik Glumova" (1923) ziemlich gelungen - während in Frankreich das Interesse an Feuillade abzuklingen begann. Jahre später ist bei Georges Franju der Einfluss von Feuillades Kriminal-Serials in "Judex" (1963) und "Nuits rouges" (1974) unübersehbar, was sich gerade in der Zeichnung der faszinierenden, genialistischen Schurkenfiguren und den unwirklichen Bildern, die Franju über den Rückgriff auf den Surrealismus entwirft, zeigt. Die häufig improvisierten, kriminalistischen Verschwörungs- & Verwirrspiele von Jacques Rivette stehen - wie "Out 1 - Nolie me tangere" (1971) - in ihrer wendungsreichen Dramaturgie und teilweise auch stilistisch in Feuillades Tradition, während Alain Resnais im Kindesalter einen Fantômas-Amateurfilm gedreht haben soll (um später zumindest eine Affinität für Populärkultur und das frühe französische Kino zwischen Méliès und L'Herbier erkennen zu lassen). Und Oliver Assayas hat mit "Irma Vep" (1996) eine liebevolle Verbeugung vor Feuillade in Szene gesetzt. Während Claude Chabrol mit Juan Luis Bunuel eine eigene Fantômas-Reihe gedreht hat, sind beim Vater des Letztgenannten - dem großen Kinosurrealisten Luis Bunuel - Feuillade-Einflüsse zumindest erahnbar; Bunuel-Kompagnon & Surrealismus-Experte Ado Kyrou sah in Feuillade immerhin den Ahnherrn des filmischen Surrealismus. Thomas Brandlmeier wagte später sogar die These, dass Feuillade das populäre und spektakuläre Kino ähnlich nachhaltig geprägt habe wie Griffith, und dass die ganzen spektakulären Action- & Abenteuerelemente in den Batman-Serials, in Zorro-Filmen, bei den Höhepunkten Hitchcocks oder in den irrealen Bedrohungssituationen David Lynchs letztlich - direkt oder indirekt - auf Feuillades Schaffen zurückgingen.
"Le Faux magistrat" bildete vor knapp hundert Jahren - im Mai 1914 - den Abschluss von Feuillades Filmzyklus, der sich über ein Jahr und über fünf Filme hinweg erstreckt hatte. Seinem Stil blieb der Filmemacher in späteren Serials und Filmzyklen allerdings noch einige Jahre treu. Konnte sich das geneigte Publikum Feuillades Filme in den späteren Jahren nur in seltenen Fällen oder indirekt über andere Werke erschließen, so liegt seit nunmehr acht, neun Jahren die vollständige Reihe in einer empfehlenswerten 2 Disc Collectors' Edition von Artificial Eye auf DVD vor: Fassungseintrag von pm.diebelshausen
"Fantômas" mit de Funés und Marais - dessen Lebensgefährte Cocteau ebenfalls eine Vorliebe für Feuillade besessen haben soll - war dann 50 Jahre später - am 04. November 1964 - trotz früherer Wiederbelebungsversuche die erste bedeutsame Auferstehung des ersten Superschurken der Filmgeschichte, wobei sich der Tonfall erheblich änderte und eher am James Bond-Boom orientierte, um ihn mit der eigenwilligen de Funes-Komik zu koppeln und letztlich ein wenig zu verharmlosen. André Hunebelles Film wurde ein voller Erfolg und zog noch zwei Fortsetzungen nach sich. Kurzkommentar von Asbestos
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