Review
von Alex Kiensch
Mit „Iwans Kindheit" erzählt der sowjetische Meisterregisseur Andrej Tarkowski die Geschichte des kleinen Jungen Iwan, der in den Wirren des Zweiten Weltkriegs Familie und Heimat verliert und auf der Suche nach Schutz und Geborgenheit in der russischen Armee landet. Doch auch hier findet er keine neue Heimat und irrt weiter umher.
Ähnlich wie der italienische Kult-Regisseur Federico Fellini, hat auch Tarkowski sein Werk in unterschiedlichen Stilphasen geschaffen: Die frühen Filme sprechen eine sehr realitätsnahe Sprache, während die späteren immer stärker abstrakte, teils surreale Züge annehmen. So ist „Iwans Kindheit" durchaus mit den Werken des italienischen Neo-Realismus zu vergleichen. Auch wenn Tarkowski schon hier sein Gespür für poetische Bildfolgen erkennen lässt: Tristen, lebensnahen Szenen aus den Trümmerfeldern der Front lässt er leise, zarte Momente in einsamen Birkenwäldchen folgen. In streng komponierten Bildmontagen, die von unendlich langsam gleitenden Kamerafahrten eingefangen werden, entwickelt er schon nach wenigen Filmminuten eine dichte Atmosphäre, die die unsichtbaren Gefahren, die Emotionen der Figuren zwischen Angst, Trotz und Hoffnung und auch die Sprachlosigkeit derer, die das Grauen des Kriegs miterlebt haben, intensiv versinnbildlicht.
Auch die Tonspur ist in jeder Sekunde durchkomponiert. Lange Passagen der Stille lassen ein Gespür für die unausgesprochenen Gefühle der Agierenden entstehen; nur selten gibt es Hintergrundmusik, meist bleibt die Geräuschkulisse der abgebildeten Realität verhaftet - Automotoren, Blätterrauschen, hin und wieder Gespräche zwischen verlorenen Figuren und das entfernte Knallen von Schüssen und Detonationen, auf die die Handelnden oft gar nicht mehr reagieren. Diese enorme formale Strenge verleiht „Iwans Kindheit" eine beeindruckende Kraft und Visualität, die das an der Oberfläche eher dünne Handlungsgerüst mit einer emotionalen, symbolischen Tiefe versieht, in die der Zuschauer unwiderstehlich eintaucht. Die Entbehrungen und Schrecken des Kriegs werden hier so intensiv verdeutlicht wie in wenigen anderen Filmen des Genres - und das alles, ohne je eine echte Kampfhandlung zu zeigen. Das Grauen steht auf den leeren, verzweifelten Gesichtern der Menschen geschrieben, spiegelt sich in den Schlammpfützen endloser zerbombter Brachflächen, in Häuserruinen und verwahrlosten Menschen, die im Nichts hausen. Es ist Tarkowskis brillantem Gespür für die Aussagekraft von Bildern und Tönen zu verdanken, dass hier die eigentlichen Wahrheiten eben nicht in den Dialogen, sondern in einzelnen Bildern, Szenenfolgen und Tonkulissen zu entdecken sind.
Schon in diesem Frühwerk des Regisseurs spürt man seine Suche nach einer genuin eigenen Filmsprache, die er mit Spätwerken wie „Stalker" oder „Nostalghia" finden und perfektionieren sollte. Sprünge zwischen Ort- und Zeitebenen, knapp eingefügte Traumsequenzen (ein direktes Highlight die Einleitungsszene, die eine sommerliche Idylle des Jungen mit seiner Mutter zeigt, nur um mit einem Schrei in die Einsamkeit der kriegsverwaisten Gegenwart zu kippen) und wunderschöne Bilder der friedlichen Wälder, die einen starken Kontrast zu den immer wieder angedeuteten Kriegsschrecken bilden, verleihen „Iwans Kindheit" eine lange nachwirkende Intensität. So ein Film hat es gar nicht nötig, den Schrecken des Kriegs anzuprangern; das Elend der Menschen wird hier mit jeder neuen Sequenz deutlicher - aber auch ihre Kraft, ihre Hoffnungen und der Wille zum Überleben.
Schon mit diesem frühen Film hat Andrej Tarkowski ein großartiges Kunstwerk geschaffen, das mit seiner formalen Strenge und atmosphärischen Dichte seinesgleichen sucht. Stark gespielt, ruhig und doch eindringlich erzählt, spannend, ohne Oberflächenaktion bemühen zu müssen, gehört „Iwans Kindheit" eindeutig zu den künstlerisch wertvollsten Kriegsfilmen.