Beitrag

von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Piccoli als Bürgerschreck

Stichwörter: 1970er Audran Chabrol Drama Faraldo Frankreich Italien Jubiläum Klassiker Komödie Kriminalfilm Kultfilm Liebesfilm Piccoli Satire Spielfilm

Themroc (1973) & Les noces rouges (1973)

Er war, da sind sich trotz großer Konkurrenz erstaunlich viele Kritiker(innen) und Cinephile einig, das Gesicht des französischen Films... In bald 250 Filmen wirkte er zwischen Kriegsende und Mitte der 10er Jahre mit, reifte in den 60er Jahren zu voller Größe heran und prägte in den 70er Jahren nicht nur das französische Kino ganz erheblich. Hier verfestigte sich allmählich sein Ruf eines Bürgerschrecks, den sich der maskuline Star mit kultiviertem, eleganten Gestus zulegte. Schon bei Buñuel desavouierte er genüsslich den Bourgeois, insbesondere in dessen "Belle de jour" (1967) sowie als Marquis de Sade in dessen "La voie lactée" (1969) und als Hauptfigur in "Dillinger è morto" (1969) spielte er zunehmend charismatische Ekel, ruchlose Ehrenmänner oder Aussteiger, die alle Konventionen hinter sich ließen. Aber im Februar 1973 brach er in "Themroc" vollends mit dem guten Ton: In diesem später zum Kultfilm untern linken Cineasten avancierten Streifen von Claude Faraldo spielt er einen Arbeiter, der sich wie alle übrigen Figuren grunzend und gröhlend durch den dialoglosen Tonfilm bewegt, ehe er alles hinschmeißt. Wirklich alles: den Job in der Fabrik, die Hemmungen, das Mobiliar... Als moderner Steinzeitmensch reißt er die heimischen Wände ein, pflegt den Inzest, pflegt Kannibalismus, macht Jagd auf Polizisten und lebt in den Tag hinein, was mehr und mehr Nachahmer in der Umgebung finden wird. Die anarchische Ausbruchsphantasie, die bei aller Unterhaltsamkeit wahrlich kein utopisches Ideal entwirft, zertrümmert allerlei heilige Kühe und wirft zumindest die Frage auf, was man eigentlich vom Leben erwartet. Diese lärmende Satire im Geist von 1968 sollte mehreren kleinen Skandalfilmen vorangehen, in denen Piccoli sich mal zu Tode fraß und furzte, mal mit seinen Gespielinnen ahnunglos Opfer mordete und im Säurebad in suppende, stinkende Brühe auflöste...
Mehr? Review von Jacob Tess Freudstein
Für Chabrol, der wie Buñuel gerne die Bougeoisie vorführte, dabei aber häufiger das Format des Kriminalfilms wählte, trat er ungefähr zeitgleich in dem im Oktober/November 1972 gedrehten und – zensurbedingt hinter die Parlamentswahlen im März 1973 verschoben! – am 12. April 1973 uraufgeführten "Les noces rouges" wieder elegant und kultiviert auf, der Tonfall ist wieder gemäßigter, aber das Leben der Wohlhabenden und Mächtigen wird hier als schöner Schein, als saubere Fassade gezeigt, hinter der es wirklich hässlich wird: Das beginnt mit dem Ehebruch, der Piccolis Stadtrat Pierre Maury mit der Gattin eines Bürgermeisters verbindet, das geht aber weiter über den Giftmord an seiner Frau bis hin zum angestrebten tödlichen Unfall des gehörnten Ehemannes, der seinen Mörder zuvor erst befördert hat, bald aber auch (nach erstem Verdacht) in seiner Hand zu haben und für die eigene Sache nutzen zu können glaubte. Die Morde, die wie Suizide oder Unfälle aussehen, rufen die Polizei zwar auf den Plan, letztlich aber wird es erst das eigene Bemühen über die saubere Weste sein, welches nochmals eine ernsthafte Bedrohung für den Täter und seine Gefährtin bewirkt. Und doch sind Piccoli und seine Film-Partnerin Stéphane Audran keine bösartigen Monstren, keine bissige Überzeichnungen, sondern auch tragisch Scheiternde, die auch nicht sonderlich viel schuldbehafteter erscheinen als ihre Umgebung: als der Bürgermeister und Ehemann, als die Strukturen eines Systems, die Scham, Verpönung, Erpressung und dergleichen überhaupt erst hervorbringen. Insofern hat Chabrol hiermit, inspiriert von einem wahren Kriminalfall, weniger einen seiner satirischen Kriminalfilme, sondern eher ein tragisches Kriminaldrama abgeliefert: trauriger, nachdenklicher, weniger auf Personifizierungen übler Züge bedacht.
Bei Zweitausendeins liegt der Klassiker für kleines Geld auf DVD vor: Fassungseintrag von Digby


Kommentare und Diskussionen

  1. Noch keine Kommentare vorhanden

Um Kommentare schreiben zu können, müssen Sie eingeloggt sein.

Registrieren/Einloggen im User-Center

Details
Ähnliche Filme