Ein Scharfschütze ist ein Soldat. Und zwar keiner mit einem Erste-Hilfe-Koffer in der Hand und einem roten Kreuz auf dem Helm, sondern einer, der dazu da ist, einen Gegner aus der Distanz kampfunfähig, und das bedeutet nicht selten, tot zu schießen. Das allein für sich genommen ist weder gemein, furchtbar oder traurig, sondern ein integrales Element im modernen Gefecht.
(Duden) Definition: „Held"
a) (Mythologie) durch große und kühne Taten besonders in Kampf und Krieg sich auszeichnender Mann edler Abkunft (um den Mythen und Sagen entstanden sind)
b) jemand, der sich mit Unerschrockenheit und Mut einer schweren Aufgabe stellt, eine ungewöhnliche Tat vollbringt, die ihm Bewunderung einträgt
c) jemand, der sich durch außergewöhnliche Tapferkeit im Krieg auszeichnet und durch sein Verhalten zum Vorbild (gemacht) wird
Eine orientalisch gekleidete Frau tritt mit einem Jungen im Teenageralter hinaus auf die staubige Straße einer Stadt im Mittleren Osten. Für den die Szene beobachtenden Mann hinter dem Zielfernrohr eines Scharfschützengewehrs wird bald deutlich, dass die eigenen Kameraden unten vor dem Haus von den beiden Zivilisten in wenigen Augenblicken aus dem Hinterhalt mit einer versteckten Granate angegriffen werden. Wohlgemerkt von einer Mutter und ihrem minderjährigen Sohn. Was macht man als vernunftbegabter Mensch in dieser undankbaren Lage? Nicht schießen - und dafür nicht wenige seiner Kameraden und Freunde wissentlich in Fetzen reißen lassen? Oder doch abdrücken? Wie würde sich ein Mensch mit Herz verhalten? Was würde ein Held tun?
Ein Russe, ein Amerikaner, ein Türke, ein Grieche, ein Eskimo oder ein Osterinsulaner würde nach einer kurzen Abwägung der Alternativen wahrscheinlich den Abzug betätigen. Nicht so der anständige Deutsche des Jahres 2015. Der lebt nämlich, so könnte man nach der Lektüre nicht weniger Gazetten jedenfalls meinen, bereits so tief im allertiefsten Frieden, dass er vermutlich nicht einmal sicher ist, ob er überhaupt irgendwann auf irgendwen schießen darf. Was uns zu der Frage bringt, wie denn ein so friedseliger mitteleuropäischer Mensch einen Film rezipieren soll, der die Biographie eines Mannes bebildert, dessen Gewaltbereitschaft nicht nur leidiges Mittel zum Zweck, sondern eine Art Dauerzustand mit Suchtfaktor war? Ganz einfach. Wie so oft im Leben, und auch als Deutscher, am besten unvoreingenommen und sachlich.
Clint Eastwood ist nicht eben ein Name, der einem in den Sinn kommt, wenn man von filmischem Dilettantismus spricht. Da ist sich die internationale Filmgemeinde vermutlich unisono einig. Der auch körperlich hünenhafte Mann hat, was sein berufliches Schaffen angeht, eher ikonenhaften Charakter. Und das nicht ganz zu unrecht. Vor sieben Jahren hat er mit „Gran Torino" eines der besten politischen Dramen inszeniert, die Hollywood zu bieten hat. Wieso also spaltet sein (noch) aktueller Film derzeit derart die Gemüter? Und zwar nicht nur hier in der Alten Welt, sondern auch im US-Amerikanischen Feuilleton? Darauf gibt es gleich zwei richtige Antworten: Erstens, weil Europäer keine Amerikaner sind und zweitens, weil Eastwood bei dieser von Steven Spielberg offenbar zu hastig übernommenen Baustelle tatsächlich geschlampt hat. Aber immer der Reihe nach.
Amerikaner haben, und das ist historisch bedingt, weit weniger Probleme mit patriotischem Denken als wir Deutschen. Wir lieben zwar bei genauerem Hinsehen ebenfalls unser Land und unsere Kultur, bezeichnen diese Zuneigung aber anders. Oder eben gar nicht. Die Amerikaner nennen diese emotionale Bindung an ihre Heimat beim Namen. Und so offen und tolerant sie gegenüber anderen Nationen sind, über ihr eigenes Land lassen sie nichts kommen. Erst recht keinen terroristischen Anschlag, der tausenden Unschuldigen das Leben kostet. Wenn so etwas passiert, meldet man sich als junger Kerl zum Militär. Man meint, seine Schuldigkeit gegenüber der Gesellschaft abzuleisten und erntet obendrein den Dank seiner Mitbürger.
Und so kommt es, dass sich, zumindest dem Film Eastwoods nach, der nicht mehr ganz so junge Chris Kyle (Bradley Cooper) zu den SEALS meldet, nachdem er die Anschläge auf die US-Botschaft in Nairobi im Fernsehen gesehen hat. Er begründet den Drang, seinem Land beizustehen, unter anderem auch damit, dass es „das beste Land der Welt" sei. Eine uns Deutschen heute fremde und, so objektiv formuliert, durchaus versnobte Sicht der Dinge. Wie dem auch sei, der erste Einsatz im Irak lässt nicht lange auf sich warten und gleich beim ersten Feindkontakt wird Kyle in die oben beschriebene moralische Zwickmühle gezwungen. Und natürlich drückt er letztendlich ab. Ein strahlender Held des Typs „John Wayne" ist er also nicht. Der wiederum hätte aber auch nie das Pech gehabt, in eine solche Situation zu geraten. Doch das wahre Leben und der echte Krieg, und daran orientiert sich die filmische Biographie Eastwoods, sind leider nie so steril und sauber wie die Hollywood-Schinken der Sechziger Jahre. Man bemüht sich also, so könnte man meinen, um ein sachliches Porträt, das nichts verschweigt. Plausibel und nachvollziehbar wird das Motiv inszeniert, warum ein gesunder Mann aus einem intakten Umfeld freiwillig in eine solche Hölle hinabsteigt. Er tut es für sein Land und für seine Familie.
So einleuchtend das für einen nüchtern denkenden Menschen sein mag, als in dieser Hinsicht unschön entpuppt sich allerdings der mangelnde filmische Bezug zum tatsächlich ja nicht vorhandenen Kausalzusammenhang zwischen den Anschlägen vom 11. September und dem Feldzug im Irak. Im Gegensatz zum militärischen Einsatz in Afghanistan gegen die Taliban, von wo aus eine blutige Spur zu 9/11 führt, war Saddam Hussein am islamistischen Generalangriff auf die USA, soweit wir heute wissen, völlig unbeteiligt. Doch kein Wort davon im Film. Man gewinnt bei „American Sniper" als sozusagen Unbeteiligter in Sachen Geschichte durchaus den Eindruck, der Irakkrieg sei eine adäquate Reaktion der USA auf den Schrecken in New York gewesen. Und daran glaubt heute, im Jahr 2015, nun wirklich niemand mehr. Was ist also mit Clint Eastwood los? Ein solcher Fauxpas unterläuft ihm für gewöhnlich nicht. Und bei dem einen Fehltritt bleibt es leider nicht.
Wir erinnern uns an Kathryn Bigelows „Hurt Locker - Tödliches Kommando" (2008), der durchaus eine Art Referenzfilm zu Eastwoods „American Sniper" darstellt. Auch dort war, verkörpert von Jeremy Renner, ein Kriegsjunkie unterwegs, der nicht loslassen konnte. Ein Mann, der sich unter Beschuss wohler fühlte als bei der Frau zuhause. Doch gelang es Bigelow, die vom Kriegsheimkehrer gefühlte Tristesse überzeugend in Szene zu setzen. Wir nahmen Renner den vom Alltag gelangweilten Profi voll ab. Nicht so bei Bradley Cooper (der obendrein für seine Performance den Oscar gewinnen wollte), dessen Dialoge mit seiner Ehefrau eher ermüden als in den Sitz drücken. Man ist als Zuschauer froh, wenn es wieder zurück in den Irak geht und damit dorthin, wo der Film seine unzweifelhaften Stärken zeigt. Bei den Kampfhandlungen.
In den Gefechtssequenzen zeigt Eastwood, was er kann. Nicht nur, dass er aus vollen Rohren ballern lässt, das Ganze wird auch noch militärisch professionell dargeboten. Ähnlich wie damals Ridley Scott bei seinem - allerdings ungleich besseren - „Black Hawk Down" (2001), legt der Altmeister großen Wert auf die Akkuratesse des hier Gezeigten. Da stolpern diesmal keine Uniformierten mit ihren Sturm- und Maschinengewehren umher, die wuseln und toben, als seien sie im Affenhaus oder völlig verblödet, wie etwa letztens unter der Führung David Ayers in „Herz aus Stahl" (2015) oder unter der Peter Bergs in „Lone Survivor" (2013).
Weniger wirklichkeitsnah und beinahe ärgerlich ist hingegen die Darstellung der Gegner. Die sind, wie so oft in Hollywood, gesichtslose Finsterlinge, die wirklich ausnahmslos Schlimmes und Schlimmstes im Schilde führen. Hier hat „Black Hawk Down" nicht nur visuell und dramaturgisch, sondern auch inhaltlich die Nase vorn. Und dann nennt Chris Kyle die Leute vor Ort auch noch „Wilde". Sicher, wenn man sich die Bilder vom IS im Internet so ansieht, dann ist der Begriff noch schmeichelhaft gewählt, angesichts der Monster, die da im nördlichen Irak und in Syrien die Welt verschlechtern. Doch trifft das mit Sicherheit nicht auf die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit zu. Eine etwas differenziertere und weniger eindimensionale Betrachtung hätte Eastwoods Film gut getan. Die Frage ist nur ernüchternder Weise die, ob das auch für das Kinoeinspielergebnis gilt. Denn da war „American Sniper" trotz seiner simplifizierenden Darbietung für einen Erwachsenenfilm extrem erfolgreich. Übrigens auch in Deutschland.
Darf man also einem Mann ein filmisches Denkmal setzen, der über 160 Menschen erschossen hat? Prinzipiell ja. Warum denn nicht? Er hat es immerhin im Krieg getan und unter Einsatz seines Lebens. Damit ist auch die Frage beantwortet, ob Chris Kyle zumindest potentiell ein Held war. Interessant in dem Kontext sollte aber auch sein, was denn sonst noch so los war mit dem Menschen Chris Kyle, der hier immerhin als eine Art Vorbild und prototypischer Amerikaner vermarktet wird. Und da kommt bei näherem Hingucken doch der ein oder andere unschöne Makel zum Vorschein. Denn zum einen war der echte Chris Kyle ein ziemlich simpel gestrickter Geist, dessen Horizont eigentlich noch innerhalb der Grenzen seines Heimatstaates Texas endete - was er in seiner Autobiographie an nicht wenigen Stellen deutlich manifestiert. Und zweitens war das Original offenbar weit weniger beliebt bei der Truppe, als das im Film von Bradley Cooper dargestellt wird. Sicher, ein echtes Argument ist das nicht dafür, das Leben und Wirken dieses Mannes nicht in Bilder gießen zu dürfen. Es hat halt nur einen recht faden Beigeschmack, wenn man den Jungen quasi gleichnishaft „American Sniper" nennt, nachdem man nur das Schmackhafte aus der Geschichte seines Lebens extrahiert hat.
Um auf den Deutschen des Jahres 2015 zurückzukommen. Der darf sich ruhig und ohne moralische Skrupel Clint Eastwoods Film ansehen und sogar genießen. Denn Schauwerte und Diskussionsstoff werden haufenweise geliefert. Und wenn es dann noch gelingt, seinen pazifistischen Referenzrahmen für zwei Stunden abzustellen, dann versteht man womöglich, warum so viele Amerikaner mitunter begeistert diesen blutigen Film im Kino goutierten (oder sich freiwillig zum Dienst im Irak meldeten). Es muss aber eben klar sein und sich immer wieder vor Augen geführt werden, dass es ernüchternd selten im wahren Leben bei Schwarz und Weiß bleibt, sondern die Realität meist nur ein etwas helleres, oder eben ein etwas dunkleres Grau anzubieten hat. Vielleicht mit der Ausnahme von Mahatma Gandhi. Es bleibt einem also bei „American Sniper" nichts anderes übrig, als das zu tun, was Clint Eastwood tat, als er das Leben von Chris Kyle verfilmte. Man muss sich die Rosinen rauspicken.